Der Klang der Zeit
alle jubilierend mitsingen, mitklatschen, die Melodie aufgreifen und in einem Dutzend improvisierter Codas ausklingen lassen. Einmal lässt der donnernde, wogende, ekstatische Chor eine dicke Frau vor uns in Zuckungen aus-brechen. Ich denke erst, sie tut nur so, und lache darüber, aber dann bin ich stumm. Sie wiegt sich hin und her, zuerst im Rhythmus der Musik, dann schneller, schließlich doppelt, dreimal so schnell. Ihre Arme gehen hin und her wie bei einem Langstreckenläufer, und die Brüste hüpfen auf und ab. Ein Mädchen, vielleicht ihre Tochter, hält sie fest, schwankt selbst und singt dabei immer weiter mit der Gemeinde mit. »Es kommt der Tag. Es kommt der Tag. An dem die Mauern fallen.« Die Frau neben ihr, eine Wildfremde, fächelt ihr mit dem Taschentuch Luft zu, sagt »Lass es nur kommen, Schwester, lass es kommen«, sieht nicht einmal hin. Folgt einfach nur dieser Woge der Musik.
Womöglich stirbt sie. Meine Mutter sieht den Schrecken auf meinem Gesicht. »Keine Sorge, Jojo. Sie kehrt einfach nur zurück.«
»Wohin?«
Meine Mutter zuckt mit den Schultern. »Dorthin, wo sie war, bevor sie hierher kam.«
Jede Kirche, in die wir gehen, klingt anders. Meine Mutter singt überall und geht weit über den Lauf der Noten hinaus. Leuchtet wie der Horizont in der Ferne, an den sämtliche Klänge zurückkehren. Was man mehr liebt als das eigene Leben, muss einem doch schließlich ganz gehören. Was man besser kennt als den eigenen Weg nach Hause, darauf hat man ein Recht.
Am Abend singen wir. Wir tauchen ganz ein in die Musik. Sie bietet uns ein klein wenig Sicherheit, hier in unserer Straße, ganz egal, von wie weit sie gekommen sein mag. Niemals komme ich auf die Idee, dass diese Töne gar nicht uns gehören, dass sie das letzte Aufflackern des längst aufgegebenen Traums eines anderen sind. Alles, was wir singen, kommt erst jetzt auf die Welt, hier, an diesem Abend. Das Land, aus dem es kommt, ist das Spinett, die Regierung sind die Finger meiner Mutter, sein Volk unsere Kehlen.
Mama und Pa können direkt nach dem Notenblatt singen, Sachen, die sie noch nie zuvor gesehen haben, und trotzdem klingt es, als sei es etwas, was sie schon von Geburt an kennen. Wir singen ein Lied aus England, »Come Again, Sweet Love Doth Now Invite«. Bald steigen wir alle zusammen die Tonleiter hinauf– »to see, to hear, to touch, to kiss, to die«, sehen, hören, fühlen, küssen, sterben –, bauen es Stufe um Stufe auf, bis wir auf dem Höhepunkt wieder umkehren, das Sterben am Ende des Satzes ein Spielzeug, das wir behutsam vom einen zum anderen reichen. Fünf Phrasen, leuchtend, unschuldig, lassen die Gesellschaftsspiele der Höflinge aus der Zeit dieses Liedes Wiederaufleben, die rauschenden, vom Sklavenhandel finanzierten Feste.
Jonah ist begeistert. Er will mehr vom selben Komponisten. Wir singen ein weiteres Lied: »Time Stands Still«. Die Zeit steht still. Erst ein halbes Jahrhundert später, erst jetzt wo ich diese Worte niederschreibe, finde ich den Weg zurück, taste mich suchend zurück zu diesem Lied. Jetzt sehe ich wieder den Tag und den Ort vor mir, den wir immer gesucht haben, wenn wir auf unseren Konzertreisen dies Lied sangen. Jetzt erst verstehe ich die Botschaft dieses ersten Mals. Denn die Prophezeiung ist ja nur eine vorweggenommene Erinnerung an etwas, das die Vergan-genheit schon seit Ewigkeiten sagt. Alles, was wir jemals tun, ist einen Anfang zu vollenden.
»Zeit steht still, schau ich in ihr Gesicht.« Ich sehe hin, und die Zeit bleibt stehen. Das Antlitz meiner Mutter im weichen Licht dieses Lieds. Wir singen ein fünfstimmiges Arrangement, Jonah so langsam, dass jede Note einzeln schwebt, der Stumpf einer Säule, um den sich Weinlaub rankt. Das ist sein Traum: Er will alle Bewegung dieser Melodie zum Stillstand bringen und einen einzigen Akkord daraus machen.
Er möchte, dass wir nie aufhören. Aber als das Lied verklingt, ist er ein letztes kleines trügerisches Jetzt lang selig, die Seligkeit, die in diesem Akkord steckt. »Du magst die alten Lieder?«, fragt Pa. Jonah nickt, ob-wohl er noch nie auf den Gedanken gekommen ist, dass manche dieser Melodien älter sind als andere. Sie sind alle exakt so alt wie unsere Eltern: einen Tag jünger als die Schöpfung.
»Wie alt ist das Lied?«, frage ich.
Unser Vater hebt die Augen. »Siebenundsiebzig drei viertel Ruths.«
Meine Schwester juchzt vor Vergnügen. Sie wedelt mit den Armen. »Nein, nein!« Sie legt eine Hand ans Kinn, stützt
Weitere Kostenlose Bücher