Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
und stiehlt jede Note der Musik, all das, was man ihr verweigert hat. Ich sehe den Blick, den meine Eltern tauschen. Sie wägen den Preis ihres Experimentes ab, kalkulieren die Kosten ihrer Gemein-schaft.
    Was wäre aus Ruthies Begabung geworden, wäre Mama am Leben geblieben? Mit vier Jahren überflügelt meine Schwester uns ja schon alle, hält selbst bei den kompliziertesten Melodien mit, hoch und klar, egal wie die Intervalle ringsum wechseln. Bald ist sie eine geniale Stimmen-imitatorin, macht Pa nach, dann Mama, stellt in perfekter Parodie jede Marotte ihrer Brüder bloß. Schnauft wie der Postbote. Stottert salbungs-voll wie der Radiokommentator, den unsere Eltern so gern hören. Ver-trottelt wie der alte Gemüsemann an der Ecke – immer weiter, bis Mama unter Tränen um Gnade fleht. Sie imitiert nicht einfach nur, sie erweckt diese Gestalten zum Leben. Ruth scheint etwas über die menschliche Einbildungskraft zu wissen, was sie unmöglich in ihren vier Jahren ge-lernt haben kann. Sie verkörpert die Menschen, die sie nachahmt.
    Aber meine Schwester ist um ein ganzes Leben jünger als wir. Drei Jahre liegen zwischen uns: Lang genug, dass wir einander nicht mehr erkennen. Jeder von uns ist das Kind seines eigenen kurzen Augenblicks. Noch viereinhalb Jahre, dann wird Mama an einem Ort sein, an dem keine Jahre sie mehr erreichen können.
    Ihr Tod kappt für uns alle Leinen, und wir treiben ruderlos in der Zeit. Jetzt bin ich fast doppelt so alt wie meine Mutter damals. Ich bin durch die Windungen eines Wurmlochs gekrochen, um noch einmal einen Blick auf sie zu werfen, ihr Spiegelbild im Licht ihrer Familie. Ihr Gesicht steht still und schaut, betrachtet all das, was es nicht mehr erleben wird. Jetzt ist es so alt und so jung wie alles, was stehen geblieben ist.
    Da ich nichts habe, woran ich sie überprüfen könnte, kann ich meiner Erinnerung nicht trauen. Mit der Erinnerung ist es wie mit der Stimme. Eine Note muss zuerst im Bewusstsein Gestalt annehmen, bevor die Stimme sie zum Ausdruck bringen kann. Wenn der Ton erklingt, hat er schon einen langen Weg hinter sich. Schon öffnet sie sich mir in diesem Blick, einem Blick, der Jahre braucht, bis er bei mir anlangt : Ihr Entsetzen, als sie hört, was für ein Wunderkind ihr Sohn ist. Das ist die Erinnerung, die ich auf die Reise schicke, mein Schlüssel zu der Frau, wenn alle anderen Schlüssel längst verschwunden sind. Sie tauscht diesen Blick mit ihrem Mann, die beiden begreifen, was sie da in die Welt gesetzt haben, das verstohlene, entsetzliche Eingeständnis: Unser Kind gehört einer anderen Rasse an als wir.
    Auch für mich hat sie einen solchen Blick. Nur einmal, und so flüchtig, dass er schon vorüber ist, ehe er beginnt. Aber unmissverständlich: Er kommt drei Tage vor meinem Aufbruch nach Boston, wo ich von nun an zusammen mit meinem Bruder zur Schule gehen soll. Sie gibt mir Unterricht, und wir wissen beide, dass es unsere letzte Privatstunde zu zweit ist. Wir gehen das Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach durch. Die meisten Stücke sind inzwischen schon zu einfach für mich, obwohl ich das nie sage. Auch große Interpreten spielen sie noch als Erwachsene, versichern wir uns. Es ist ein Buch für die ganze Familie, sagt Mama, etwas, das Bach angelegt hat, damit seine Frau ein musikalisches Zuhause hat. Ein Familienalbum, wie die Polaroid-Fotos, die meine Eltern aus früheren Jahren von uns haben. Aufgehobene, lieb gewordene Ansichtskarten.
    Pa ist in der Universität. Ruth sitzt auf dem Fußboden, drei Schritt vom Klavier, spielt mit ihrem Puppenhaus und den Wäscheklammern, die es bewohnen. Mama und ich blättern in dem Album. Eigentlich stünde Sozialkunde auf dem Stundenplan – die Entwicklungsländer –, aber wir schwänzen, weil die Zeit so knapp ist. Es ist keiner da, der uns aus-schimpfen könnte. Wir spielen ein paar einfache Tänze, ziehen sie in die Länge, lassen sie tanzen, so leicht wie Regen in der Wüste, die Tropfen schon zerstoben, bevor sie auf die Dächer treffen.
    Dann widmen wir uns den Arien, unserem liebsten Teil des Noten-büchleins, denn da kann einer von uns singen und der andere spielen. Wir nehmen die Nummer 37, »Willst du dein Herz mir schenken«. Mama singt, schon da ein Wesen aus einer anderen Welt. Aber von hier, in der einzigen Welt, in der ich je gelebt habe, kann ich das nicht hören. Ich leite über zur Nummer 25, aber noch vor dem dritten Takt verstummt Mama. Ich halte ebenfalls inne, weil ich nicht weiß,

Weitere Kostenlose Bücher