Der Klang der Zeit
hohen, klaren Stil, conductus, etwas aus der Schule von Notre-Dame, achthundert Jahre alt. »It's good enough for me«.
»Du spinnst«, sagte ich.
»Joey, alles dreht sich darum, wie die Stimmen sich mischen. Sich verbinden. Ineinander aufgehen. Das ganze Ensemble atmet wie ein einziger Sänger. Genau das, was Musik für uns bedeutet hat, als wir noch Kinder waren. Fünf Stimmen, als wären sie eine einzige lebendige Seele. Und da sitze ich hier und überlege: Unter all den Menschen auf der Welt, wer versteht mich da am besten ? Mit wem habe ich das meiste genetische Material gemeinsam? Wessen Kehle ist meiner eigenen am ähnlichsten ? Wer hat mehr Musikalität im kleinen Finger als andere in der ganzen –«
»Lass doch die Lobhudelei, Jonah.«
»Widersprich nicht einem Älteren und Klügeren. Vertrau mir, Muli. Habe ich je etwas getan, was sich als falsch erwies?« Ich musste lachen. »In letzter Zeit, meine ich.«
Er kam zu den praktischen Fragen. Erläuterte mir, was er singen wollte; wie er diese noch ungeborene Gruppe bekannt machen wollte. »Ist das realistisch?«, fragte ich.
»Du meinst, ob wir davon leben können?«
»Ja. Das meine ich.«
»Was hast du gesagt, wie viel haben wir von Pa geerbt?«
Ich hätte mir denken können, dass es daraufhinauslief: unser ganzes Leben bezahlt vom Tod unserer Eltern. »Jonah. Das kann ich nicht machen.«
»Joey. Das kannst du nicht nicht machen. Ich brauche dich hier. Ich
brauche dich bei dieser Sache. Wenn ich es ohne dich mache, ist es nichts wert.«
Als ich auflegte, sah ich Teresa zusammengekauert in der Ecke sitzen, eine weiße alte Jungfer, in deren Wohnung gerade ein junger Schwarzer eingebrochen ist. Sie wartete auf einen Bericht von mir. Ich brachte keinen zustande. Hätte es nicht einmal gekonnt, wenn ich verstanden hätte, was da geschehen war.
»Du gehst zu ihm, nicht wahr? Du gehst zu ihm nach Europa.« Ich versuchte etwas zu sagen. Was als Einwand begann, endete mit einem Schulterzucken. »Scheiß auf dich«, sagte Sankt Teresa. My honeysuckle rose. »Dann verschwinde. Hau ab. Du hast mich sowieso nie gewollt. Du hast nie gewollt, dass aus uns beiden etwas wird.« Sie richtete sich auf, blickte in alle Richtungen, auf der Suche nach einer Waffe. Teresa brüllte mich an, aus voller Kehle, und die ganze Welt hörte mit. Wenn die Nachbarn die Polizei riefen, würde ich den Rest des Jahrzehnts im Gefängnis verbringen. »Von Anfang an, habe ich mich aufgegeben für dich, nur weil ich dachte, aus uns beiden könnte ...« Sie schluchzte. Ich hätte zu ihr hingehen sollen, aber ich konnte mich nicht rühren. Als sie wieder aufblickte, waren die Worte spröde, wie tot. »Und all die Zeit hast du nur gewartet, dass er anruft und dir ein besseres Angebot macht.«
Sie lebte ihre Rolle, wie jede große Künstlerin. Sie stürzte sich auf das Regal mit ihren Schallplatten, Hunderten davon, und mit der Stärke einer Mutter, die ein Automobil anhebt, unter dem ihr Kind begraben liegt, riss sie es von der Wand, und über den Raum, der einmal unserer gewesen war, ergoss sich ein Müllhaufen aus Musik.
NOVEMBER 1945 – AUGUST 1953
Ruthie kommt. »Es ist ein Wunder«, sagt Pa. Aber das sehe sogar ich. Zuerst ist sie hellgelb, wie eine geschälte Kartoffel. Aber nach ein paar Wochen ist sie braun, als hätte die Kartoffel ihre Schale zurückbekommen. Nichts behält seine Farbe, jedenfalls nicht für lange. Anfangs ist Ruth kleiner als die kleinste Geige, aber schon bald ist sie so groß, dass ich sie nur noch mit Mühen halten kann. So dick wie Mama war, bevor Ruthie kam; und jetzt ist Mama wieder wie früher.
Ich frage sie, ob Ruth auch in unsere Schule kommt. Mama sagt, das ist sie doch schon. Mama sagt, jeder Mensch geht in die Schule, sein ganzes Leben lang. »Du auch?« Ich kichere verlegen bei dem Gedanken.
»Du gehst noch zur Schule?« Sie lächelt und schüttelt den Kopf, als ob sie nein sagen wolle. Aber das will sie nicht. Es ist das traurigste Ja, das ich je gehört habe.
Jonah lernt schneller als ich, aber Mama erklärt mir, das liegt daran, dass er einen Vorsprung hat. Ich strenge mich an, aber das treibt meinen Bruder nur weiter, sodass er mir immer den entscheidenden Schritt voraus bleibt. Jeden Tag machen wir etwas Neues, lernen etwas, was wir nie zuvor gesehen haben. Manchmal ist es selbst für Mama neu. Die kleine Ruthie liegt einfach nur dabei und lacht uns an. Pa ist auf der Arbeit und bringt Erwachsenen Physik bei, denn
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