Der Klang der Zeit
musikalischen Regeln. Wir hatten unsere tägliche Dosis an hysterischen Ausbrüchen und Beschwichtigungen. Bei den Proben standen wir im Kreis hinter schwarzen Notenständern, alle auf Strümpfen, nur nicht der allzeit korrekte Hans. Manchmal zeichneten wir unseren Gesang mit einem alten Tonbandgerät auf; anschließend lagen wir alle sechs auf dem Dielenboden unserer Lagerhausbühne, dirigierten unser vergange-nes Leben und begleiteten die fossile Aufnahme mit unserem Unisono-gesang.
Wir waren wie Synchronschwimmer. Zehn gestikulierende Hände modellierten die widerspenstigen Noten, schwankten wie der flandrische Weizen im Wind. Besonders Celeste und Marjoleine brauchten den Tanz, bei dem sich der Bogen der Musik mit der fließenden Bewegung ihrer Muskeln verband. Peter Chance, der im Knabenchor des King's College gesungen hatte und nach dem Stimmbruch in Cambridge geblieben war, genoss die neue Bewegungsfreiheit, die ihm die Gruppe gewährte. Hans Lauscher bewegte immerhin die Schultern, was für ihn fast so viel war, als tanze er Schwanensee. Selbst Jonah, der Mama einst dafür getadelt hatte, dass sie beim Singen nicht still hielt, und der in den Jahren als Liedersänger unnatürlich steif und unbeweglich an der Seite des Flügels gestanden hatte, geriet in Bewegung. Er beugte die Knie und legte sich mit dem ganzen Körper in eine Phrase, als wolle er sich hinauf in den leeren Raum schwingen. Die Musik erinnert uns daran, wie kurz die Zeit ist, in der wir einen Körper haben.
Wenn wir richtig in Fahrt gerieten, war Jonah in Hochstimmung. Im Kielwasser seines allmächtigen Tenors konnten wir überallhin segeln, und keiner konnte uns etwas anhaben. Doch wenn wir strauchelten und in einem Feuerball zur Erde stürzten wie Ikarus, war seine Geduld so dünn wie abgestreifte Schlangenhaut. Dann verbrachten sechs gekränkte Primadonnen Stunden mit dem Versuch, den Kadaver wieder zum Leben zu erwecken.
Wir waren wie eine Kommune oder eine junge Kirche, in die jeder seine besonderen Fähigkeiten einbrachte. Hans war ein Quell teutonischer Gelehrsamkeit, eine wandelnde Manuskriptbibliothek, die es jederzeit mit Wien oder Brüssel aufnehmen konnte. Peter Chance, der in Cambridge Renaissancegeschichte studiert hatte, war unsere Autorität in Sachen Aufführungspraxis. Celestes Spezialgebiet war die Artikulation: Sie sorgte dafür, dass die Vokale weicher, runder und geschmeidiger klangen, und präzisierte zugleich unsere Intonation und das polyphone Wechselspiel. Marjoleine war unsere Übersetzerin, sie erklärte den Sinn der Worte und setzte Akzente, in jeder Sprache, in der wir sangen. Ich war für die Analyse der Gesamtstruktur zuständig und erkundete, wie man lang angehaltene Noten und schnelle Passagen wirkungsvoll zueinander in Beziehung setzen oder die subtilen rhythmische Wellenbe-wegungen herausarbeiten konnte.
Der Herrscher über das Ganze aber war Jonah. Sein Gesicht war unser Dreh- und Angelpunkt, erfüllt von einem besessenen Willen. Unser Altersunterschied war keine schlüssige Erklärung für all das, was er mir jetzt voraushatte. Eins stand fest: Er hatte das alles nicht gelernt. Er erinnerte sich, ließ diese tote Welt wieder lebendig werden, als sei es immer die seine gewesen. Dank Kampens Hilfe hatte er ein Gespür für die Sprache der frühen Musik entwickelt. Schon eine Woche nachdem er ein Stück zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er, wie er seinen überirdischen Klang wecken konnte. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er Zugang zu dem verborgenen Universum in jeder Komposition, ent-deckte den inneren Puls einer Melodie, konnte Text, Harmonie und Rhythmus zueinander in Beziehung setzen und so die Botschaft enthüllen, die nur in der Spannung dazwischen existierte. Er führte uns durch ein kontrapunktisches Dickicht zu den Augenblicken der Ruhe, die das Leben ihm verweigerte.
Er formte die Gruppe wie ein Kyrie. Er ließ uns lange auf unseren ersten Auftritt warten. Als wir zum ersten Mal vor Publikum sangen, waren wir schon seit Monaten für diesen Augenblick bereit. Alle Mitglieder arbeiteten weiter außerhalb der Gruppe. Marjoleine leitete drei Kirchenchöre. Celeste war Backgroundsängerin bei ärmlichen Popaufnahmen. Hans und Peter sangen und unterrichteten. Jonah nahm diverse Engagements an, sang alte Musik, vor allem mit Geert Kampen, dessen mittlerweile fest etabliertes Ensemble unser Leitstern war. Aber wir sechs
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