Der Klang der Zeit
Auferstehung. Jonah befreite mich von mir selbst, nahezu unversehrt. »Woher hast du das gewusst? Wie konntest du wissen, dass ich nach all den Jahren immer noch da drin war?«
»Du hast gesungen. Die ganze Zeit über. Leise. Beim Klavierspielen.«
»Ich? Unsinn. Du lügst.«
»Wenn ich's dir sage, Joseph. Ich lüge nicht mehr. Ich habe es genau gehört.«
Es spielte keine Rolle, woher er es wusste oder was er gehört hatte. Ich konnte singen. Ich hatte eine Aufgabe: ein dunklere Variante desselben genetischen Materials, stark genug für den Bass. Als ich endlich so weit war – die äußere Bestätigung seines inneren Ohrs –, holte Jonah Celeste dazu. Zum ersten Mal seit unserer Schulzeit machten mein Bruder und ich zusammen Musik mit einem anderen Menschen.
Ich war Celeste in Gent nicht näher gekommen als auf dem Flughafen-parkplatz am Tag meiner Ankunft. Zwischen ihr und meinem Bruder herrschte eine Übereinstimmung, wie es sie nur zwischen zwei Men-schen geben kann, die einander unbegreiflich sind. Sie redeten unab-lässig, aber nie zur selben Zeit über dasselbe Thema. Wenn wir drei zu-sammen waren, drohte ich in dem reißenden Fluss französischer Silben zu ertrinken. Dann wieder sprach Celeste mit mir in einem unbeküm-merten englischen Kauderwelsch, bei dem ich nur nicken und beten konnte. Nachts hörte ich ihr Liebeswerben, drei Stockwerke tiefer in unserem uralten Haus. Sie summten Pendereckis Threnodie, Reich oder Glass, die neuen Minimalisten, die jüngsten Idole der Avantgarde. Ihre Stimmen kletterten in gebundenen Viertelnoten empor zu lang angehal-tenen dissonanten Intervallen, bis sich die Spannung in Appoggiaturen wieder löste. Sie wollten eine neue Spezies aus sich machen, und dafür brauchten sie einen neuen Balzgesang.
Daher kannte ich Celeste Marins Stimme schon, bevor wir zusammen sangen. Diese Tochter aus der karibischen Geldaristokratie – einer Dy-nastie von gemischtrassigen Rum Magnaten – sang mit typisch kreolischer Hingabe. Aber die französischen Terzette aus dem vierzehnten Jahrhundert trafen mich unvorbereitet. Beim ersten gemeinsamen Versuch gab ich nach acht Takten auf. Ihre Stimme war Jonahs Stimme, nur wieder im Sopran, wie vor seinem Stimmbruch. Wie auch immer sie am Pariser Konservatorium gesungen hatte, bevor sie Jonah kennen lernte, jetzt klang sie mehr wie ein weiblicher Jonah, als Ruth und Mama es jemals getan hatten.
Wir probierten ein Stück– ein Chanson von Solage: »Die Lüge hält die Welt in ihrem Bann«. Eine wachsende Welle der Begeisterung trug uns voran. Die letzte Note verhallte, schwebende Staubkörnchen im göttlichen Licht. Ich war wie berauscht. Seit Ewigkeiten hatte ich mich nicht mehr so euphorisch gefühlt und zugleich so voller Angst. Am Abend konnte ich nicht einschlafen, weil mir bewusst war, was wir besaßen. Wie sich herausstellte, ging es Jonah ebenso. Ich hörte ihn auf den hölzernen Stufen zu meinem Krähennest. Er trat ohne anzuklopfen in mein Zimmer und setzte sich in der Dunkelheit an das Fußende meines Bettes. »Himmel, Joey. Das ist es. Wir haben es geschafft.« Ich sah, wie die schemenhafte Gestalt in die Luft boxte wie ein Teenager, der sich mit dem Ball ganz allein vor der Torlinie findet. »Mein Leben lang. Mein ganzes Leben habe ich daraufgewartet.« Aber er konnte nicht sagen, worauf.
»Und was ist mit den anderen?« Ein Hunger hatte mich gepackt. Ich würde nicht zulassen, dass die anderen uns auch nur einen Taktschlag lang zurückhielten, eher würde ich sie beiseite stoßen.
Jonah lachte in der Dunkelheit. »Wart's ab.«
Ich wartete, bis zur nächsten Woche, als Jonahs handverlesenes Gesangensemble sich zur Probe versammelte. Die anderen traten seit zwei Jahren in unterschiedlichen Konstellationen miteinander auf und hatten ihre Kunst immer weiter verfeinert. Sie hatten die Zuhörer in den gotischen Geisterstädten der Niederlande, Frankreichs und Deutsch-lands mit ihrem Gesang verblüfft. Sie wussten, wozu sie gemeinsam fähig waren, und konnten ihr Geheimnis nur schwer für sich behalten. Aber fünf Sechstel sind von der Perfektion ebenso weit entfernt wie jeder andere Bruchteil. Mit jeder neuen Stimme beginnt eine Gruppe wieder ganz von vorn, bei null.
Vor dieser ersten Probe war ich von Lampenfieber wie gelähmt. Diesen Menschen gehörte die Welt, von der ich einen ersten Blick aus der Ferne erhascht hatte. Sie hatten ihr ganzes Leben mit Singen verbracht; ich war ein Klavierspieler auf dem Wege der Genesung,
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