Der Klang der Zeit
zusammen hielten uns immer noch zurück, weil wir den Augenblick fürchteten, an dem wir nicht mehr die Einzigen waren, die wussten, was möglich war.
Wir sangen für Kampen im Chor der St.-Bavo-Kathedrale. Die Kirche war menschenleer bis auf eine Hand voll verblüffter Touristen. Es war, als sängen wir für Josquin persönlich. Als der letzte Ton verklungen war, saß Kampen im Chorgestühl, die Stirn unter dem weißen Haarschopf verborgen. Ich fürchtete schon, wir hätten ihn mit unserer Interpretation verärgert. Er saß einfach nur da, fünf ganze Takte lang, dann wurden seine Augen hinter der winzigen Nickelbrille feucht. »Wo haben Sie das gelernt?«, fragte er Jonah. »Sicher nicht von mir.« Und obwohl mein Bruder heftig protestierte, fügte er hinzu: »Jetzt müssen Sie mein Lehrmeister sein.«
Voces Antiquae traten zum ersten Mal beim Flandern-Festival in Brügge auf und dann beim Holland-Festival in Utrecht. Wir bauten un-seren Brückenkopf im fünfzehnten Jahrhundert – Ockeghem, Agricola, Mouton, Binchois, ein buntes Gemisch aus regionalen Stilen. Aber unsere Erkennungsmelodie wurde Palestrinas Messe Nigra sum sed formosa, ein privater Scherz zwischen Jonah und mir. Es ging um Daley und Strom, kein Außenstehender würde das verstehen. Jonah bestand da-rauf, dass wir alles aus dem Gedächtnis sangen. Er wollte das Risiko. Solisten haben es da leichter. Wenn sie in zu tiefes Wasser geraten, schwimmen sie, bis sie wieder Boden unter den Füßen haben, und nur der Knabe in der vierten Reihe mit der Taschenpartitur merkt etwas. Bei Ensembles muss die geistige Landkarte für alle gleich sein. Wenn sich da einer verirrt, gibt es keinen Weg mehr zurück.
Die Notenschrift lässt sich mit nichts auf der Welt vergleichen – sie ist ein Abbild der Zeit. Die Idee ist so bizarr, es ist fast schon ein Wunder: Genaue Anweisungen darüber, wie sich Gleichzeitigkeit nachschaffen lässt: Wie man etwas Fließendes hervorbringt, das Bewegung und Augenblick zugleich ist, Fluss und Momentaufnahme in einem. Du machst dieses hier, und du, du und du, ihr macht inzwischen das hier. Weniger die Melodielinien werden in einer Partitur festgehalten; eher beschreibt sie die Zwischenräume zwischen den beweglichen Punkten. Und man kann nie sagen, was die Summe der Einzelteile ergibt, es sei denn, man spielt es nach. Und so wurden unsere Aufführungen Teil jener unendlichen Zahl von Hochzeitsgesellschaften, Taufen, Totenfeiern, auf denen die Karte des fließenden Jetzt immer wieder neu aufgerollt wurde.
In den Weltlinien, die diese Partituren nachzeichneten, wurde Jonah endlich eins mit sich selbst. In wilder Synchronizität schlugen seine sechs Stimmen Purzelbäume umeinander, und jede schuf die anderen, indem sie die fehlenden Stücke ergänzte. Wir sangen den Palestrina, ein Werk, das, wenn ich einmal die Art von Überschlagsrechnung anstellen wollte, die Pa so geliebt hatte, etwa hunderttausendmal aufgeführt worden war. Oder wir erweckten ein Manuskript von Mouton zum Leben, das Hans Lauscher entdeckt hatte und das seit seiner Entstehung vor fünf Jahrhunderten kein Mensch gehört hatte. In beiden Fällen reihten wir uns ein in die Reihe aller Aufführungen, die es je gegeben hatte oder die noch kommen sollten.
Deshalb bestand Jonah darauf, dass wir die Sicherheit des Notenblattes aufgaben. Wir nahmen die schriftlichen Instruktionen in uns auf, lebten, aßen, atmeten sie, bis sie verschwanden, bis wir das Geschriebene wie-der neu komponierten, im Moment, in dem wir es aufführten. Er wollte, dass wir auf der Bühne standen, den Mund öffneten und die Musik einfach kommen ließen; wir sollten sein wie Medien, die nur das Sprach-rohr waren für die Seele, die von ihnen Besitz ergriff. Er ließ uns aus so vielen Eingängen wie möglich auf die Bühne kommen, in Alltagsklei-dung, als begegneten wir uns zufällig auf der Straße. Damals war es noch eine Selbstverständlichkeit, dass man in Abendgarderobe auftrat. Jahrelang hatte Jonah sich verkleidet. Der größte Schock, der für ihn vorstellbar war, war der des Alltäglichen. Wir kamen einfach zusam-men, und es war, als könnten wir ganz unvermittelt in Zungen reden. Wir standen so weit auseinander, wie die Bühne erlaubte, wie Körper bei einem physikalischen Experiment. Damit waren die Stimmen so deutlich wie möglich geschieden, die größte Raumwirkung erzielt. Die Mischung der Stimmen, der präzise Einsatz, der synchrone Schluss wurden ent-sprechend schwieriger, und jeden
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