Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
Zeichen an alle. Jonah antwortete auf den Unglauben des Chorknaben aus Cambridge im gleichen Ton, nur mit amerikanischem Akzent. Und dort, im gedämpften Mondlicht der Piazza Sordello, fiel der Groschen. In fünf verschiedenen Währungen.
    »Das ist ein Witz, oder?« Noch nie hatte Chance so durch und durch britisch geklungen. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
    »Das hast du nicht gewusst? Er hat es nicht gewusst!« Ein Bastardton, halb Erheiterung, halb Verblüffung.
    »Nun, ich habe natürlich gewusst, dass es ... farbige Vorfahren gibt. Aber liebe Güte, du bist doch kein Schwarzer.«
    »Nicht?«
    »Na ja, nicht wie ...«
    »Wir haben es ausgerechnet«, erklärte Celeste stolz. »Wir vermuten, dass ich genauso viele – comment dit-on? – arriere-parents blancs habe wie die beiden hier.«
    Peter inspizierte mich, und auch ich sah ihn mir genauer an. »Und wie viele weiße Urgroßeltern waren das?«
    Jonah lachte. »Tja, das ist eben das Kreuz, wenn man schwarz ist. Schwer zu sagen. Aber mehr weiße als schwarze.«
    »Ja das ist es doch gerade, was ich sage. Wie kannst du dich ... wo du aussiehst wie ...?«
    »Willkommen in den Vereinigten Staaten.«
    »Aber wir sind hier nicht in den verfluchten Vereinigten ...« Kopfüber kullerte Peter Chance den Hügel hinunter, den wir für ihn aufgeschüttet hatten. Unten rappelte er sich auf und rieb sich verdutzt die Augen. »Seid ihr sicher?«.
    »Was meinst du, Joseph, sind wir uns sicher?« Jonahs Lächeln wie der Vesuv an einem gemütlichen Tag.
    Ein lange verlorener Abend kam mir in den Sinn, der letzte, an dem ich meinen Großvater gesehen hatte. »So steht es auf unseren Geburtsurkunden.«
    »Aber ich dachte ... ich habe immer geglaubt, ihr seid ... Juden?«
    »Deutsche«, sagte Hans. Er hatte sich an eine mittelalterliche Mauer ge-lehnt und studierte die Manschetten seines Hemdes. Ich hätte nicht sagen können, um wie viele Kategorien es jetzt ging.
    Jonah nickte. »Denkt an Gesualdo. Ives. Eine progressive Sprache. Vollkommen archaisch. C'est la mode de l'avenir.«
    Celeste hakte sich bei ihm unter. Sie schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »C'estpratiquement banal.«
    »C'est la même chose«, steuerte ich bei. Bis an mein letztes Stündlein würde ich der Onkel Tom bleiben. Es war meine Natur.
    Zu sechst standen wir unter den Arkaden des Palazzo Ducale. Schon sah Peter Chance uns mit anderen Augen als zuvor. Jonah hätte gern mit einer einzigen Bemerkung diese Gruppe gesprengt, alles zerstört, was er aufgebaut hatte. Aber er hatte ja schon jeden anderen Ort, an dem er hätte leben können, in Brand gesteckt. Ich rechnete damit, dass die anderen sich verlegen davonmachen würden, jeder zu seinen eigenen gens. Aber sie blieben. Jonah stand auf der Piazza, ein Herzog, der seinen Höflingen eine gute Nacht wünscht. »Ich würde sagen, wir geben an diesem ganzen Alte-Musik-Rummel den Engländern die Schuld. Den Engländern mit ihren verdammten Chorknaben.«
    »Warum nicht?« Hans Lauscher ergriff die Gelegenheit. »Schließlich hat ihnen alles mal gehört, zu irgendeiner Zeit.«
    »Eine Verschwörung der Briten«, stieß auch Marjoleine ins selbe Horn. »Die konnten ja noch nie mit Vibrato singen.«
    Nichts änderte sich nach diesem Abend, jedenfalls nichts Sichtbares. Die Voces Antiquae sangen auch weiterhin zusammen, ihr Einklang beängstigender denn je. Von Irland bis Österreich waren wir, in der Welt der Alten Musik, gefeierte Stars. Wir waren es wider Willen. Denn was Jonah von diesem klaren, durchscheinenden Klang wirklich gebraucht hätte, das war, dass er ihn befreite von allen Etiketten, ihn anonym machte, so weit den Augen der Öffentlichkeit entzog wie nur möglich. Aber ein letztes Mal ließ die Musik ihn im Stich.
    Seit ich nach Europa gekommen war, hatte ich mich um die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten kaum noch gekümmert. Ich verfolgte das Zeitgeschehen nicht mehr und noch weniger die aktuelle Musik. Dazu hatte ich keine Zeit; ich musste schon hart an mir arbeiten, dass ich halbwegs das Niveau der anderen erreichte. Das Wenige, was ich hörte, bestätigte nur meine Vermutungen; das Land war merkwürdiger geworden, als ich mir überhaupt vorstellen konnte. Der Appetit auf law and order war so unersättlich wie die Gier nach Drogen und Verbrechen. In einer wallonischen Zeitschrift las ich, dass bei einem durchschnittlichen amerikanischen Mann die Wahrscheinlichkeit, dass er ins Gefängnis kam, größer war als die, dass er in ein

Weitere Kostenlose Bücher