Der Klang der Zeit
immer wieder die gleichen Noten, ließen sie einander umkreisen, bis sie zu einer Einheit verschmolzen. Dabei lieferte ich den gedämpften Grundton und er die brillanten Farben. Gemeinsam erkundeten wir die Grenzen meiner Stimme. Ich spürte, wie jede Frequenz aus meinem In-neren herausströmte, klar und eindeutig, eine Naturgewalt. Wir sangen lange Unisono-Passagen, als wollten wir niemals enden. Ich hatte völlig vergessen, was Glück war.
»Wieso bist du so überrascht?«, fragte er. »Natürlich kannst du das. Du hast es Abend für Abend getan, in einem anderen Leben.«
Bei den Ensembleproben wollte er mich nicht dabeihaben. Ich sollte
an nichts anderes denken als an schlichte, lang angehaltene Töne. Wenn Celeste oder die anderen Kampen-Schüler – eine flämische Sopra-nistin namens Marjoleine de Groot, Peter Chance, ein faszinierender britischer Kontratenor, der Aachener Hans Lauscher – in dem Lagerhaus zusammenkamen und in unterschiedlichen Konstellationen probten, wurde ich in meine Dachkammer verbannt, um über das tiefe C zu meditieren.
Hin und wieder gönnte Jonah mir eine Pause. Mit einem Stadtplan bewaffnet erkundete ich wie ein Tourist meine neue Stadt. Jonah gab mir ein handgeschriebenes Blatt mit wichtigen Informationen, das ich vorzeigen sollte, falls ich mich verlief. »Sei vorsichtig. Geh immer schön langsam. Und sag nichts auf Türkisch. Sonst wirst du verprügelt, genau wie daheim.«
Hundert Schritte von unserer Haustür entfernt konnte ich nicht mehr sagen, in welchem Jahrhundert ich mich befand. Ich beschloss, Flandern und die flämische Sprache zu einem Teil meiner selbst zu machen, so wie Jonah es mir mit meiner Stimme gezeigt hatte. Ich wanderte ziellos durch die Straßen dieser Stadt, mit der es seit 1540 ständig bergab gegangen war, und sog alles in mich auf. Die Scherben des alten Gent ragten aus der rußigen Masse der Vergangenheit, Juwelen, die die Geschichte übersehen hatte, bevor es unterging. Ich stand lange vor den Gildehäusern an der Koornlei und schlenderte durch das Foltermuseum im Schloss s'Gravensteen. Irgendwann ging ich auch in die St.-Bavo-Kathedrale und fand mich unversehens vor dem größten Gemälde aller Zeiten. Das Bild von der Anbetung des Lamms in der Mitte des aufgeklappten Altars war erfüllt von der mystischen Stille, die mein Bruder mit seiner Stimme beschwor.
In dieser Stadt war ich nirgendwo zu Hause. Aber in Amerika war ich es auch nicht mehr. Ich hatte einfach nur die Qualen der Staatsbürgerschaft eingetauscht gegen die Freiheit des Fremdlings. Ich kleidete mich wie die Einheimischen, trennte mich von meinen Tennisschuhen und sprach nie ein unbedachtes lautes Wort. Aus viertausend Meilen und achthundert Jahren Abstand sah ich, wie ich auf das Land gewirkt hatte, in dem ich geboren war.
Nach zwei Monaten wagten wir uns zum ersten Mal an ein richtiges Lied: Hildegard von Bingens »O ignis Spiritus paracliti, vita vite omnis creature« – »O tröstendes Feuer des Geistes, lebendiges Leben der Schöpfung«. Jonah übernahm den Text, ich sang die zweite Stimme unisono dazu. Als wir mit dem Ergebnis zufrieden waren, widmeten wir uns tausend Jahre alten Kanons. Jonah wollte die Geburtsstunde der geschriebenen Musik neu erleben, sein Ziel war unser genauer Gegenpol, ein Punkt, den wir in tausend Jahren eigentlich nie hätten erreichen sollen. Aber wir erreichten ihn trotzdem, idem et idem. Ich sollte seinen Gesang ergänzen, sodass unsere Stimmen zu einem einzigen Ton verschmolzen; an diesem fremden Ort sollte die alte Telepathie zu neuem Leben erwachen. Nach unseren jahrelangen Konzertreisen konnten wir uns noch immer ohne Worte verständigen, bewegten uns noch immer in vollkommenem Einklang, wie Fische in einem Schwarm, nicht ich mit ihm, nicht er mit mir, sondern beide gemeinsam, als seien wir eins.
Am Klavier folgten meine Finger in der Regel den Anweisungen des Kopfes. Aber meiner Stimme gelang das nur selten, trotz der größeren Nähe zum Gehirn. Bisweilen stürmte Jonah einfach davon und ließ mich atemlos zurück wie ein Kind, das beim wilden Spiel auf dem Schulhof nicht mehr mithalten kann. Doch durch unser ständiges Training erreichte ich das erforderliche Tempo, das Tempo der Stille, das Tempo von Hildegards Flug jenseits der Planentenbahnen: vita vite omnis crea-ture.
Und so bekam ich schließlich meine Stimme zurück, Jahre früher, als es gerecht gewesen wäre. Der Sänger, der ich zu Beginn meines Lebens gewesen war, feierte
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