Der Klang der Zeit
Abend forderten wir das Schicksal neu heraus. Aber mit so viel Raum zwischen uns waren wir sechs Solisten, die sich nur zufällig zu einem einzigen Kristall formiert hatten.
Unser Ton glitzerte wie Goldmünzen frisch aus der Prägeanstalt. Jonah wollte jedes Intervall zur Geltung bringen. Jede Auflösung strahlte wie ein gerade noch abgewandtes Unglück, bei jeder Dissonanz litt eine Seele Höllenqualen, jede tierce de Picardie befreite ein Leben von den Qualen des Diesseits. Ein Kritiker in De Morgen machte uns, noch trunken von dem Erlebnis, den größten Vorwurf, den wir zu hören bekamen: »Wenn man ihnen etwas vorhalten will, dann dass der Ton zu göttlich ist. Zu viele Gipfel, nicht genug Täler.«
Und selbst dieser Vorwurf war ja voller Dankbarkeit. Überall sehnten Menschen sich nach Erlösung, wenigstens ein paar Sekunden lang. Es überraschte uns alle, alle außer Jonah, wie populär wir binnen kurzem wurden. Schon im ersten Jahr wollte jedes staatlich bezuschusste Musikfestival in Europa uns einladen. In jener vornehmsten aller sterbenden Welten waren wir der Liebling des Tages. Unsere Aufnahme der Palestrina-Messen für EMI – ein Label, so groß, dass es hundert Har-mondials in die Tasche stecken konnte – wurde mit zwei Preisen ausgezeichnet und verkaufte sich so gut, dass wir davon die Miete in der Brandstraat noch bis ins nächste Jahrhundert hätten zahlen können.
Tausend Jahre vergessener Musik kamen wieder zu ihrem Recht, in einem Dutzend Ländern, überall zur gleichen Zeit. Nicht nur unser Ensemble; Kampen, Deller, Harnoncourt, Herreweghe, Hillier – eine ganze Lawine war in Gang gekommen, alle mit dem Ziel, die Vergangenheit zu neuem Leben zu erwecken. Museen präsentierten schon seit Jahrzehnten tote Musik, jeder Kurator mit eigenen Ideen zur Rekonstruktion. Aber in all den Jahren hatte das Publikum diese Konzerte bestenfalls als exotisches Dekor wahrgenommen. Unsere jetzige Generation von Musi-kern hatte ihr Profil feiner geschärft, hatte dieser Musik eine Aura ver-liehen, untermauert von wissenschaftlicher Arbeit. Aber das allein konnte nicht erklären, warum ein paar Jahre lang der creator Spiritus lebendiger war, als er je wieder sein sollte.
»Ich habe eine Theorie«, sagte Hans Lauscher in einem Hotel in Zürich.
»Jetzt wird's gefährlich«, warnte Marjoleine. »Ein Deutscher mit einer Theorie.«
Jonah hob die Hände wie ein Schiedsrichter. »Kein Streit, Leute. Wir sind hier in der Schweiz. Neutraler Boden.«
Hans quittierte es mit der Theorie eines Lächelns. »Wieso stürzen sich plötzlich alle auf eine tote Musik, die niemandem etwas bedeuten kann? Ich denke, das ist die Plattenindustrie. Die Märkte sind überschwemmt, der Verkauf stagniert. Wie viele Neuaufnahmen von Mozarts Requiem kann man noch bringen? Wie viele Unvollendete 7 . Aber jetzt, wo sie groß und fett geworden sind, haben sie Hunger. Sie brauchen etwas Neues für die Kunden.«
»Und sei es auch Altes«, fügte Peter Chance hinzu.
»Musik ist immer neu«, entschied Jonah. Und so sollten wir auch singen: Als könne der Augenblick ewig währen.
Ich sehe uns noch vor mir, nach einem Konzert im Castello di San Giorgio in Mantua, lange nach Mitternacht in einer warmen Mainacht. Die Lichter der Stadt zeichneten dramatisch die Umrisse von Burg und Palast. Wir kamen auf den Marktplatz, der unverändert geblieben war, seit am Hof der Gonzaga das Madrigal entstanden war. Wir zogen durch diese reale Traumwelt wie durch eine Theaterkulisse. »Was haben wir für ein Glück!«, rief Celeste.
»M-hm«, stimmte Peter Chance zu. »Die reinsten Glückspilze.« Wie üblich war ich der Einzige, dem die Worte fehlten.
»Wie sind wir nur hierher gekommen?«, fragte Marjoleine. »Ich wollte Opernsängerin werden. Bis vor ein paar Jahren habe ich nichts von der Musik vor Lully gewusst.« Sie blickte Hans an, unseren Schriftgelehrten.
Er hob abwehrend die Hände. »Ich bin Protestant. Meine Eltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass ich lateinische Messen singe. Du!«, sagte er zu meinem Bruder und schwang seinen Finger, als fechte er mit ihm. »Du hast uns alle verführt.«
Jonah sah sich um, betrachtete den Platz im Licht des Gonzaga-Mondes, dessen Wankelmut er erst am Abend im Lied beschworen hatte. »Ich kann nichts dafür. Ich bin nur ein armer Negerjunge aus Harlem.«
Peter Chance stieß einen Laut aus, halb Kichern, halb Empörung. Er blickte Celeste an und schüttelte theatralisch den Kopf, ein
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