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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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der gerade erst zum Singen zurückfand. Die Sprachen, in denen wir sangen, waren ihnen von Kind auf vertraut; ich konnte die Laute nur nachahmen und das Beste hoffen. Mein Bruder setzte für mich seinen Ruf aufs Spiel. Ideale Voraussetzungen dafür, dass ich auf meine vorwitzige Nase fiel. Ich hatte nichts als die zurückliegenden Tage, eine vage Ahnung, wie die Zukunft aussehen könnte.
    Wir sangen vom Blatt: Ein Chanson von Dufay – »Se la face ay pale« – und anschließend die älteste aller Parodiemessen, aufbauend auf der gleichen Melodie. Es war, als öffneten wir eine Grabkammer, die seit einem halben Jahrtausend verschlossen war. Zehn Jahre später sollte das Streben nach Originalklang den Einsatz von Frauenstimmen ganz verbieten. Aber einen kurzen Augenblick lang dachten wir, wir hätten die Zukunft klar vor Augen und die Vergangenheit sicher im Griff.
    Wenn der Körper den Grenzen seiner Hülle entflieht, beginnt er zu schweben. Wie viele Menschen, gefangen im Fluss der Zeit, können auch nur für einen einzigen Augenblick aus der Strömung heraustreten und am Ufer des Flusses verweilen? Jonah übernahm den Tenor, und die Frauenstimmen setzten zum Flug an, drei Schritte Anlauf, dann der Sprung in die Schwerelosigkeit. Sie segelten empor bis zum Schlussstein des höchsten Gewölbes. Ihre Sicherheit gab mir Kraft, und die Noten rollten ohne viel Zutun vom Blatt, sobald ich sie ansah.
    Das polyphone Geflecht war so dicht, dass jede neue Stimme, wenn sie die vorherige aufgriff, klang, als kehre diese an den Anfang zurück. Ich war vor einen Garderobenspiegel getreten und sah mich selbst vervielfacht. Hin und wieder kehrten die befreiten Stimmen zurück zu der Einheit, aus der sie hervorgegangen waren. Das Universum, das hatte Pa zumindest nach seinen eigenen Maßstäben einmal bewiesen, ließ sich mit Hilfe eines einzigen Elektrons beschreiben: Wenn es sich auf unendlich verschlungenen Pfaden in der Zeit hin und her bewegte, dann bildeten die Verbindungslinien zwischen den einzelnen Punkten alle existierende Materie.
    Als wir ans Ende kamen, hallte die von uns erschaffene Stille nach wie eine Glocke. Peter Chance, der wie ein Engel von van Eyck sang und wie ein geschlechtsloser Anthony Eden sprach, kramte einen Bleistift hervor und machte mit winziger Schrift kritische Anmerkungen auf seinem Notenblatt. »Wie wär's mit einer kleinen Wette auf unsere Zukunft?«
    Celeste bat Jonah um eine Übersetzung. Marjoleine de Groot erfüllte die Bitte mit einem Lächeln, denn Jonah starrte verzückt zu den Dachbalken empor. Wir beobachteten einander mit dem typischen Musikerblick, der alles wahrnimmt, ohne den anderen anzusehen. Jeder hatte Angst vor dem nächsten Mal. Am liebsten hätten wir die Notenblätter aus der Hand gelegt und diesen Augenblick für alle Zeiten festgehalten. Aber Jonah kehrte auf die Erde zurück und zog eine weitere Messe aus seiner Mappe. »Sollen wir es mit dem Victoria versuchen?«
    Der Victoria war noch besser als der Dufay, selbst mit ein paar kleinen Fehlern. Dem Klangschauer des Probelaufs folgte eine erste Ahnung, was wir gemeinsam erreichen konnten. Das himmlische Signal war bald stärker, bald schwächer, wie ein Radiosender bei Gewitter. Aber die Botschaft war klar. Wir setzten zum Sprung an, vollführten unsere Kapriolen und Kehrtwendungen. Ich war der Richtige für sie. Mein Bruder hatte es gewusst. Als die letzten Noten verhallten, musterte Hans Lauscher mich aufmerksam und sagte: »Du bist eingestellt. Wie viel nimmst du die Stunde?« Sein Akzent ließ mich erschaudern, denn ich hörte die Stimme meines Vaters.
    Celeste beglückwünschte mich überschwänglich in ihrem karibi–schen Argot. Marjoleine umarmte mich und klopfte mir auf die Schulter, als hätte ich gerade ein Kopfballtor in einem Qualifikationsspiel gegen die Niederlande erzielt: Das Maximum an übermütiger Freude, das ihr flämisches Temperament zuließ. »Wenn du wüsstest, mit wie vielen Bassisten wir es schon versucht haben! Gute Stimmen, aber sie passten einfach nicht zu uns. Warum bist du nicht früher gekommen? Wir hätten so viel Zeit sparen können.« Ich warf Jonah einen verstohlenen Blick zu. Er grinste ungerührt, zufrieden mit seinem Doppelspiel, stolz, dass er es von Anfang an gewusst hatte.
    Die Verschmelzung von sechs nicht gerade einfachen Persönlichkeiten zu einer Einheit gelang nicht über Nacht. Es galt viele Spannungen zu überwinden, und der komplizierte Tanz gehorchte ganz eigenen

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