Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
sie kamen in bedrük-kter Stimmung zurück. Etwas war auf dieser Reise geschehen, worüber sie nie sprachen. Sie hatten sich ein grasüberwachsenes Gefängnis an der Küste angesehen, wo seinerzeit die Verträge ausgehandelt wurden, die Waren gelagert. Was immer Jonah in Afrika gesucht hatte, er hatte es gefunden. Und hatte nicht vor, es sich so schnell noch einmal anzusehen.
    Wir machten zwei weitere Plattenaufnahmen. Wir bekamen Preise, Stipendien, siegten in Wettbewerben. Wir gaben Meisterklassen, traten live im Radio auf, hin und wieder sogar im Fernsehen, bei BRT, NOS und RAI. Alles fühlte sich unwirklich an. Ich lebte in einer Welt, die nur aus Tönen bestand, und ansonsten musste ich nur aufpassen, dass ich
    immer rechtzeitig zum Zug oder Flugzeug kam. Mein Bass wurde besser, leichter, müheloser, die monatelange Arbeit zahlte sich aus.
    Ich kam in ein Alter, wo ich alle sechs Wochen Geburtstag hatte. Ich wurde vierzig und merkte es gar nicht. Es ging mir auf, dass ich große Teile meines vierten Jahrzehnts meinem Bruder gewidmet hatte, genau wie zuvor mein drittes. Jonah hatte darauf gewettet, dass ich zum Singen zurückkehren würde, und wir strichen den Gewinn dieser Wette ein. Ein wirklich imposanter Bass wäre ich nie geworden; dazu hatte ich um ein ganzes Leben zu spät begonnen. Aber ich war das Fundament für Voces Antiquae, und unser Klang stammte von uns allen zusammen. Aller-dings spürte ich, jetzt wo ich am Höhepunkt meiner Sangeskunst ange-kommen war, auch schon, wie mein Ton an Glanz verlor, Konzert um Konzert, Note um Note. Sänger sind nicht ganz so schlimm dran wie Basketballspieler, aber auch ihre Karriere ist zum frühen Niedergang verdammt. Die Ewigkeit, die wir jeden Abend für fünfzig Minuten be-schwören, hält, wenn wir Glück haben, zwei Dutzend Jahre lang.
    Ich konnte es nicht glauben, als mir irgendwann aufging, dass ich nun schon über ein halbes Jahrzehnt in Europa war. Im ersten Jahr hatte ich gelernt, was es hieß, für alle Zeiten Amerikaner zu sein. In den nächsten beiden lernte ich, wie ich mein Amerikanertum verbergen konnte. Irgendwann hatte ich eine unsichtbare Linie überschritten, und nun konnte ich nicht mehr sagen, wie viel von meinen Ursprüngen über-haupt geblieben war. In all den Jahren hatten wir kein einziges Mal einen Fuß auf den Kontinent gesetzt, auf dem wir geboren waren. Es kamen nie genug Angebote, um eine Tournee rentabel zu machen, und einen anderen Grund zur Rückkehr gab es nicht. Das Land hatte einen Schauspieler zum Steuermann berufen, einen, der verkündete, dass ein neuer Morgen in Amerika angebrochen sei, und der den größten Teil des Nachmittags verschlief. Undenkbar, dass wir jemals dorthin zurückkehrten.
    Mittlerweile konnte ich Unterhaltungen in fünf Sprachen folgen und mich in dreien verständlich machen, Englisch und Latein nicht mitgezählt. Jetzt, wo ich nicht mehr jede wache Stunde mit Üben verbringen musste, sah ich mir auf unseren Reisen die Sehenswürdigkeiten an. Manchmal lernte ich Frauen kennen. In Augenblicken, deren Einsamkeit ich kaum ertragen konnte, dachte ich an die Jahre zurück, die ich mit Teresa verbracht hatte. Aber dann wieder kam mir selbst das Leben allein schon kompliziert genug vor. Ich war ein Mann von vierzig Jahren, lebte in einem Land, das ich mir als meines ausgesucht hatte und das mich für einen Gastarbeiter hielt, zusammen mit meinem einund-vierzigjährigen Bruder und seiner zweiunddreißigjährigen Frau, die mich beide behandelten wie ihr adoptiertes Kind.
    Alles, was ich hatte, gehörte ihm. Mein Vergnügen, meine Ängste, meine Leistungen, mein Versagen: All das war das Werk meines Bruders. So war es schon immer gewesen. Jahre würden vergehen, und auch dann würde ich noch für ihn da sein. Ein Monat kam, da brauchte ich etwas, was ich vor ihm geheim halten konnte, sonst würde ich für immer in seinem Schatten verschwinden. Es spielte keine Rolle, was es war. Es kam nur darauf an, dass es für meinen Bruder unsichtbar blieb, nicht von ihm gefördert, ihm keine Rechenschaft schuldig.
    Diesmal gab ich mich mit wenigem zufrieden. Ich zog durch Europa mit einem einzigen Notizbuch, einer Kladde in Halbleinen mit acht Notensystemen pro Seite. Auf langen Zugfahrten zu entlegenen Konzertsälen, in Hotels und Garderoben, in den öden Viertel– und halben Stunden, die ein Künstler mit Warten verbringt, horchte ich in mich hinein nach Melodien, die das Aufschreiben wert waren. Komponieren konnte man es

Weitere Kostenlose Bücher