Der Klang der Zeit
Kammerkonzert ging.
In einem Hotel in Oslo sah ich die Schlagzeile einer englischen Zeitung: VIERZEHN TOTE BEI RASSENKRAWALLEN IN MIAMI – POLIZISTEN FREIGESPROCHEN. Ich wusste, wie die Anklage gegen die Polizisten gelautet hatte, noch bevor ich eine Zeile von dem Artikel las. Die Zeitung war schon einen Monat alt, und das verstärkte mein Entsetzen nur noch. Vielleicht war seither noch viel Schlimmeres geschehen, und ich würde erst davon erfahren, wenn es längst zu spät war. Jonah fand mich im Foyer. Ich reichte ihm den Bogen. Ihm eine Zeitung zu geben, das war, als hätte man Gandhi einen Stapel Pornohefte in die Hand gedrückt. Er las den Artikel, nickte und bewegte die Lippen dazu. Das hatte ich ver-gessen: Mein Bruder sprach leise mit, wenn er las.
»Wir sind noch nicht so lange weg, wie es uns vorkommt.« Er faltete die Zeitung ordentlich zweimal der Länge nach und reichte sie mir zurück. »Unser Zuhause wartet auf uns, wann immer wir es brauchen.«
Zwei Abende darauf, in Kopenhagen, ging mir auf, warum er mich um den halben Erdball geschleppt hatte. Wir waren mitten im Agnus Dei von Byrds Messe zu fünf Stimmen, über die Bühne verteilt, sangen so strahlend wie Sterne, die frisch aus den Gaswolken des Nordamerikanebels geschleudert wurden. Er sandte eine Botschaft hinaus zu anderen Wesen, die nie begreifen würden, wie groß der Abstand zwischen uns war. Und dafür brauchte er mich. Ich sollte seinem mönchischen Ensemble ein wenig Glaubwürdigkeit geben. Jonah hatte uns alle fünf angeworben für einen Krieg, der die Schande endgültig besiegen sollte; er wollte sehen, was Bestand hatte – die strahlenden Töne der Vergangenheit oder die schrillen Polizeisirenen unserer Zeit.
Wir verdienten ein wenig Geld, aber Jonah wollte nicht aus der Brand-straat fort. Stattdessen steckte er ein Vermögen in die Renovierung des Hauses, stopfte es mit Holzschnitten und alten Instrumenten voll, die keiner von uns spielte. Die Panikanfälle und die Atemnot, die ihm jahrelang zu schaffen gemacht hatten, verschwanden fast ganz. Was immer sie an jugendlichen Albträumen beschworen hatten, war überwunden, zur Ruhe gelegt.
Wir hatten zwei Pressefotos für Voces Antiquae, beide schwarzweiß. Bei dem ersten machte ein Trick der Beleuchtung uns einander in der Hautfarbe sehr ähnlich. Das zweite verteilte uns über das Spektrum der Breitengrade, von Celeste Marin, die für den Äquator stand, bis zu Peter Chance und der fahlen Sonne des Polarkreises. Die meisten Zeitschriften nahmen das Zweite, verkauften uns als Vereinte Nationen der Musik. Ein Radiofeature beim Bayrischen Rundfunk nannte als unsere Herkunft »das heilige unrömische Reich«. Ein überdrehter britischer Journalist sprach von »polychromer Polytonalität«. Jeder Schreiberling stellte die ethnische Vielfalt unseres Ensembles heraus und sah uns als Beweis für die universelle, transzendente Wirkung der westlichen klassischen Musik. Nie war die Rede davon, dass das frühe Repertoire, das wir sangen, ebenso nahöstlich und nordafrikanisch war wie europäisch. Jonah machte das alles nichts aus. Er hatte seinen Klang gefunden, einen, der mit jedem neuen Monat klarer, feiner, unverwechselbarer wurde.
Eines Tages im Winter 1981 kamen er und Celeste nach Hause und kicherten wie Schulkinder, die auf ein ganzes Wörterbuch voller verbotener Wörter gestoßen sind. Sie trug einen Blumenkranz um die Stirn, züchtige weiße Margeriten, doch in ihrem Haar sahen sie wie tropische Treibhausblüten aus. »Joseph Strom der Erste.« Jonah salutierte. »Wir haben ein Geheimnis.«
»Das ihr gar nicht schnell genug an die große Glocke hängen könnt.«
»Da könntest du Recht haben. Kannst du raten, was es ist, oder soll ich dir einen Tipp geben?«
Ich sah sie an und konnte es nicht glauben. »Dieses Geheimnis, hat es etwas mit Mendelssohn zu tun?«
»In manchen Ländern schon.«
Celeste kam mit wiegenden Schritten auf mich zu und gab mir einen Kuss. »Mein Bruder!« Vier Jahre lang hatte ich nun mit ihr gesungen, in zehn Ländern, und doch hatte ich noch immer das Gefühl, dass sie von einem Ort kam, der weit ferner lag als Martinique.
Ihre Hochzeitsreise machten sie in den Senegal: eine Pilgerfahrt zu den imaginären gemeinsamen Wurzeln. »Es ist unglaublich hier«, schrieb er auf seiner Ansichtskarte aus Dakar. »Besser als Harlem. Wohin man auch blickt, jeder ist schwärzer als man selbst. So wohl habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.« Aber
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