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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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nicht nennen. Eher war ich ein Medium, das Botschaften aus dem Jenseits empfing. Ich saß da, den Bleistift über den leeren Linien, und wartete, weniger auf eine Vision als auf die Rückkehr einer Erinnerung.
    Genau wie bei meinen ersten Kompositionsversuchen schrieb ich Melodien aus meinem Leben auf, nur so weit verändert, dass man sie nicht mehr erkannte. Wenn ich das, was ich aufschrieb, lange genug studierte, fand ich immer eine verborgene Quelle, eine, die, so gut sie auch getarnt war, doch nur auf ihre Entdeckung wartete. Aber anders als in Atlantic City, wo mich diese Entdeckung gequält hatte, war ich nun sehr erleichtert, wenn die Geiseln freikamen. Drei Nachmittage arbeitete ich an einer längeren Passage, und erst als ich sie endlich zu Papier gebracht hatte, als ich mich davon befreit hatte, erkannte ich sie als eine Neufassung von Wilson Harts Kammerfantasie, dem Stück, das ich vor so vielen Jahren als Neufassung von »Motherless Child« erkannt hatte. Ich hatte ihm versprochen aufzuschreiben, was ich in mir hatte, und hervor kam nur das, was einmal seines gewesen war.
    Aber es war meine Handschrift, das musste genügen. Mein Notizbuch füllte sich mit schwebenden, unverbundenen Fragmenten, jedes davon rief nach einer endgültigeren Fassung, die sie doch nie bekamen. Die Melodien spiegelten die Geschichte meines Lebens, die eine Hälfte das, was ich wirklich erlebt, die andere das, was ich nie zustande gebracht hatte. Nichts davon würde je werden, was es sein wollte. Ich stolperte nur halb blind vor mich hin und stieß lange nach der Zeit Käfigtüren auf.
    Jonah beobachtete mich oft bei meinen Mühen. Einmal fragte er sogar. »Was ist das für ein geheimnisvolles Hobby, Joseph? Geschäft oder Vergnügen?«                                                                                       
    »Geschäft«, antwortete ich ihm. »Alte Rechnungen.«                     
    »Schreibst du eine schöne tausendjährige Messe für uns?«           
    »Für das hier sind wir nicht gut genug.« Damit war sichergestellt, dass er nie wieder fragen würde.
    In der Welt, in der wir lebten, war unsere Zukunft vorgezeichnet; wir konnten nichts daran tun. Aber die Vergangenheit war täglich neu. Wir standen an vorderster Front einer Bewegung, die dafür sorgen würde, dass die Geschichte nie wieder das sein würde, was sie einmal gewesen war. Kein Monat verging ohne eine neue musikalische Revolution, und immer wieder wurde der Ursprung der Musik neu definiert. Die Hälfte dieser Revolutionen stand auf recht wackligen Füßen, und die Fachgelehrten gingen mit der gleichen Heftigkeit aufeinander los wie die Politiker bei der Raketenabwehr-Debatte. Was die älteste Aufführungspraxis anging, waren Voces Antiquae den neuesten Entwicklungen voraus. Wir besetzten jede Stimme mit nur einem einzigen Sänger, dreihundert Jahre nachdem und fünf Jahre bevor es die große Mode war. Jonah verpasste diesen ätherischen Klang allem, was lange genug stillhielt und sich die Behandlung gefallen ließ. Er war ein überzeugter Anhänger von Rifkins umstrittener Theorie, dass Bach seine Vokalmusik für nur einen Sänger pro Stimme geschrieben habe. Jonah brauchte keinen anderen Beweis dafür als den Klang; auch noch so viel Belegmaterial für oder gegen die These hätte seine Überzeugung nicht ändern können.
    Er wollte Bachs sechs Motetten aufführen – nur wir und noch zwei angeheuerte Helfer für die achtstimmige Extravaganz Singet dem Herrn ein neues Lied. Die anderen – vor allem Hans – waren dagegen. Die Musik war ein ganzes Jahrhundert jünger als die neuesten Stücke, die wir bisher gesungen hatten. Sie war vollkommen anders als die, deren Aufführung wir zur Perfektion entwickelt hatten. Jonah konnte unsere Zurückhaltung nicht verstehen. »Jetzt kommt schon, ihr Armleuchter. Eins der größten Meisterwerke aller Zeiten, und in all seinen zweihundert-fünfzig Jahren ist es nie anständig gesungen worden. Einmal vor meinem Tode will ich das hören, und zwar so, dass es nicht klingt wie ein Sherman-Panzer, von dem gerade eine Kette abfällt.«
    »Das ist Bach«, protestierte Hans. »Dafür gibt es Experten. Leute die diese Stücke in- und auswendig kennen.«
    »Leute, die glauben, sie kennen sie. Genau wie sie dachten, sie kennen Rembrandt, bis dann der ganze Schmutz runterkam. Kommt, wir singen dem Herrn

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