Der Klang der Zeit
ein neues Lied. Johnny Bach. Ein neuer Bach für neue Ohren.«
Das wurde der Slogan des Projektes, und EMI bewarb die Aufnahme damit. Egal wie umstritten die Begründung sein mochte, die Aufführung gab uns Recht. Das Entscheidende an Bach ist, dass er im Grunde nie für die menschliche Stimme schrieb. Er stellte sich ein weniger unbeholfenes Instrument vor, das seine Botschaft ins Weltall tragen sollte. Seine Melodielinien sind vollkommen unabhängig voneinander. Zwischen ihren Harmonien schafft er eine weitere, eine zusätzliche Dimension. Die meisten Aufführungen streben nach strahlender Größe und enden in zähem Brei. Voces Antiquae wollte Leichtigkeit und endete hoch oben am Himmel. Die Wendigkeit unserer Stimmen, selbst im Autobahn-tempo, war phänomenal. Wir arbeiteten in diesen Werken einen Kontra-punkt heraus, den selbst Hans noch nie bemerkt hatte. Jede Note war zu hören, selbst diejenigen, die in diesem Dickicht des Einfallsreichtums lebendig begraben waren. Manchmal schwindelte uns, aber dann beka-men wir die flüchtigen Dissonanzen nur noch sicherer zu fassen. Wir führten diese Motetten zurück an ihre mittelalterlichen Wurzeln und scheuchten sie voran bis zu ihren ungezogenen romantischen Kindern. Als wir mit ihnen fertig waren, hätte kein Mensch mehr sagen können, aus welchem Jahrhundert sie stammten.
Vom ersten Tage an war unsere Platte Zündstoff. Es wurde eine regelrechte Prügelei daraus, erstaunlich erbittert, wenn man bedachte, wie wenig auf dem Spiel stand und wie wenige sich darum scherten. Nicht dass es Le sacre du printemps oder etwas in dieser Größenordnung gewesen wäre. Aber die Flaks feuerten. Das Neue schockierte niemanden mehr; nur das Alte brachte die Leute noch auf die Barrikaden. Wir wurden geschmäht für unseren saft– und kraftlosen Bach oder gepriesen dafür, dass wir ein Denkmal, das seit Jahrhunderten Patina angesetzt hatte, blank schrubbten. Jonah las keine einzige der Kritiken. Er fand, wir hatten uns gut geschlagen. Ausgezeichnet sogar. Aber zufrieden war er nicht. Er hatte dieser Musik ihre Geheimnisse entlocken wollen. Aber die würde sie erst preisgeben, wenn wir alle längst tot waren.
Wir gingen mit den Motetten auf Tournee, aber dann kehrten wir zu unseren Wurzeln zurück. In ganz Deutschland ließen wir die Renaissance Wiederaufleben. Wir sangen in Köln, Essen, Göttingen, Wien –jeder Stadt, von der Pa uns je erzählt hatte. Aber bei keinem dieser Konzerte kam hinterher ein verlorener Verwandter hinter die Bühne. Wir
sangen in der Kapelle von King's College, ein Heimspiel für Peter Chance, eine atemberaubende Entdeckung für die Brüder Strom. Jonah legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Fächergewölbe, dem kein Foto auch nur halbwegs gerecht werden kann. Er hatte Tränen in den Augen, presste bitter die Lippen zusammen. »Die Wiege aller anglikanischen Chorknaben.« Es war eine Heimkehr an einen Ort, der niemals sein Zuhause sein konnte.
Fünf Tage waren wir in Israel. Ich hätte gedacht, dass die Messen der Gegenreformation und die Chansons französischer Höflinge absurd klingen müssten in diesem Land des ewigen Kriegs. Aber unsere Zuhörer ließen uns erst nach mehreren Zugaben wieder gehen. Die Erinnerung war erfinderisch. Jeden Fetzen, den der Wind daherblies, konnte sie einfangen und in ihr Nest weben. In Jerusalem, der letzten Station der Tournee, sangen wir in einem futuristischen holzgetäfelten Auditorium, das ebenso gut in Rom, Tokio oder New York hätte stehen können. Unmöglich zu sagen, was das Publikum dachte: Zwei Geschlechter, drei Religionen, vier Rassen, ein Dutzend Nationalitäten und so viele Grün-de, diesen Gesängen des Todes zu lauschen, wie es Plätze im Saal gab.
Von meinem Standort ganz vorn an der Rampe fiel mir eine Frau in der zweiten Reihe auf, ihr Gesicht von sechzig Jahren Leben gezeichnet, ein Inventar der Weisheit. Beim vierten Akkord unseres ersten Stückes, eines Kyrie von Machaut, wusste ich es: Das war meine Tante Hannah, die Schwester meines Vaters, die Einzige seiner Familie, bei der immer noch denkbar war, dass sie den Krieg überlebt hatte. Sie und ihr bulgarischer Mann Vihar waren schon vor meiner Geburt untergetaucht, und damit war die Spur abgerissen. Mein Vater, der Empiriker, hatte es nie fertig gebracht, sie für tot zu erklären. Das Partikel Hannah war im Ver-gleich zur gesamten Historie so klein, sein Lauf ließ sich nicht messen. Der Holocaust hatte alle Adressbücher verbrannt.
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