Der Klang der Zeit
Aber hier saß Tante Hannah, zu uns ins Konzert gekommen. Sie musste die Plakate gesehen haben, die unsere Tournee ankündigten. Sie hatte den Namen gesehen, ihren Namen, zwei Männer im richtigen Alter, mit der richtigen Herkunft ... Sie hatte sich eine Karte gekauft, ein Platz nahe an der Bühne, damit sie unsere Gesichter studieren konnte, nach Zeichen der Verwandtschaft darin forschen. Es war geradezu unheimlich, wie ähnlich sie Pa sah. Zeit, Ort, nicht einmal der Albtraum, der ihrer beider Lebenswege getrennt hatte: Nichts konnte diese Verwandtschaft auslöschen. Sie sah Pa so ähnlich, ich hatte keine Zweifel, dass auch Jonah es sehen würde. Aber wenn ich in dieser ersten Konzerthälfte zu ihm hin-übersah, entdeckte ich kein Anzeichen, dass er das Publikum überhaupt bemerkte. Zwischen dieser so vertrauten Fremden, die mich genau beobachtete, und meinem Bruder, der mich nicht ansah, brauchte ich schon die Routine eines ganzen Lebens, dass ich trotzdem weitersingen konnte.
In der Pause stürzte ich mich auf Jonah. »Ist dir nichts aufgefallen?«
»Mir ist aufgefallen, dass deine Augen hin- und hergingen wie ein –«
»Hast du sie nicht gesehen? Die grauhaarige Frau in der zweiten Reihe, kräftige Statur?«
»Joseph. In der zweiten Reihe sitzen nur grauhaarige dicke Frauen.«
»Das ist deine Tante.« Wenn ich schon den Verstand verloren hatte, dann sollte mein Bruder es auch wissen.
»Meine Tante?« Er piekte sich mit dem Finger auf die Brust und kalkulierte im Geiste die Wahrscheinlichkeit. »Unmöglich. Das ist dir klar, oder?«
»Jonah. Alles ist unmöglich. Schau dir uns an.«
Er lachte. »Da hast du Recht.«
Wir gingen wieder auf die Bühne. Bei unserem ersten gemeinsamen tacet sah ich, wie er nach unten spähte. Er warf mir einen Blick zu, nur einen Sekundenbruchteil lang. Wenn irgendwo auf der Welt ein Mensch unsere Tante ist, dann dieser hier. Und sie für ihren Teil sezierte uns mit ihren Blicken. Nur wenn sie Jonah ansah, ließ sie die Augen von mir. Und beim Schlussapplaus fixierte sie mich mit einem Blick, der den letzten Zweifel vertrieb: Strom, Jüngele, hast du denn geglaubt, ich würde dich nie finden ?
Die Reihe von Gratulanten, die hinter die Bühne kamen, war endlos an diesem Abend. Dutzende von Leuten, noch ganz beglückt von der Stunde, die sie gerade in einer anderen Zeit verbracht hatten, wollten, einfach indem sie in unserer Nähe waren, uns die Hände schüttelten, den Augenblick hinauszögern, an dem sie in ihre eigene zurückmussten. Ich hörte bei den Komplimenten kaum zu. Ich suchte die ganze Menschenmenge ab. Ich wollte eine Familie finden, so klein sie auch war, so entfernt die Verwandtschaft. Die Aufregung war nur Entsetzen, das sich noch nicht sein eigenes Ende ausgemalt hatte.
Nach und nach gingen die Leute, und da sah ich sie. Sie hielt sich im Hintergrund, wartete, dass es ruhiger wurde. Ich packte Jonah und zog ihn mit zu unserer Blutsverwandten, schob ihn wie einen Schild vor mir her. Sie lächelte, als sie uns auf sich zukommen sah, auch wenn es aus-sah, als hätte sie am liebsten die Flucht ergriffen.
»Tante Hannah? Ist es möglich?«
Sie antwortete auf Russisch. In einem Pidgin aus allen erdenklichen Sprachen verständigten wir uns. Sie kannte den Namen Strom nur von unseren Schallplatten. Mit geschlossenen Augen hörte sie zu, als wir unseren Teil der Geschichte erzählten, ihr erklärten, für wen wir sie hielten. Sie sahen genau wie die geschlossenen Augen meines Vaters aus.
»Diese Tante von euch. Ich habe Tausende von euren Tanten gekannt. Ich war eine davon.« Sie atmete tief durch und schlug die Augen auf. »Aber heute bin ich hier. Hier, um euch das zu sagen.«
Jeder Muskel in ihrem Gesicht war unserer. Wir wollten nicht aufgeben, suchten weiter nach Belegen für Verwandtschaft: Ortsnamen, das Wenige, was wir über die russischen Wurzeln unserer Großmutter wussten, wir klammerten uns an alles, was doch noch eine Verbindung sein konnte. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Genau das gleiche Kopfschütteln wie bei Pa. Und da begriff ich, was diese Geste gewesen war. Der ewige Schmerz des Judentums. Ein Kummer so groß, dass die einzige Antwort, die er auf die Frage nach unserer Herkunft hatte, das Schweigen war.
Sie sprach kaum Englisch und erschauderte beim Deutschen. Das wenige Russisch, das wir kannten, kam von Rachmaninow und Prokof-jew. Aber ihre Worte waren klar wie die Stille: Ihr gehört zu uns, für alle Zeit. Nicht von Gesetzes wegen,
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