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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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aber das Gesetz zählt nicht. Ihr könntet konvertieren. Zurückkehren. Neu lernen, sogar zum ersten Mal. »Wisst ihr«, sagte sie uns zum Abschied, »wenn ihr eure Familie sucht – der halbe Saal heute Abend, das waren Verwandte von euch.«
     
    Wir sangen im Papstpalast beim Festival in Avignon, Ende Juli 1984, als meine Familie mich fand. Die Nachricht kam von unserer Konzertagentur in Brüssel, die ein Telegramm von unserem alten Agenten Mil-ton Weisman bekommen hatte. Mr. Weisman sollte im Jahr darauf sterben, ohne dass er je ein Faxgerät besessen oder von E-Mail gehört hatte. Milton Weisman – der letzte Mensch auf der weiten Welt, der ein Telegramm geschickt hätte.
    Die Agentur hatte es in einen Briefumschlag gesteckt und per Kurier an unser provenzalisches Hotel gesandt. Der Portier gab es mir mit dem Zimmerschlüssel, und ich dachte, es sei ein Formular, das ich noch unterschreiben müsse. Ich las es erst, als ich auf meinem Zimmer war.
     
    Schlechte Nachrichten von zuhaus. Dein Bruder ist umgekommen. Rufe deine Frau an, sobald dich dies erreicht. Mein Beileid. Vergib diesem Boten. Milton.
     
    Ich las es noch einmal und verstand noch weniger als beim ersten Mal. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich, es sei tatsächlich Jonah, der tot sei, gestorben in einem absurden Paralleluniversum, das erst jetzt die Verbindung zu meiner Welt fand und an die Stelle derjenigen trat, die ich in meiner Einfalt für die echte gehalten hatte. Dann war der Tote nicht Jonah, sondern ein Bruder, den ich gar nicht gekannt hatte. Dann ging es gar nicht um mich, meinen Bruder, meine Frau, sondern um einen Splitter der Strom-Familie, der gefangen hinter schalldichtem Glas lebte; ich konnte sehen, wie sie mit schreckensstarrer Miene daran klopften, aber ich hörte nichts.
    Ich ging zum Zimmer von Jonah und Celeste. Meine Hände zitterten so sehr, ich musste zweimal pochen, bevor sie mich bemerkten. Jonah öffnete und sah sofort, was mir im Gesicht geschrieben stand. Ich konnte ihm nur das Telegramm in die Hand drücken. Ich folgte ihm ins Zimmer. Jonah las das Blatt und legte es aufs Bett, den Blick noch immer daraufgeheftet. Er hob die Hände. »Er muss ein uralter Mann sein, inzwischen. Das ist die Erklärung.«
    »›Vergib diesem Boten‹?«
    Jonah nickte, akzeptierte einen Einwand, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn gemacht hatte. »Dann ruf an.«
    »Aber wen? Meine Frau?« Doch ich wusste, wen Milton Weisman damit meinte. Er stammte aus einer anderen Zeit. Ein Mann, dessen Moral und dessen Wortschatz so alt waren wie die Künstler, die er vertrat. Eine Telefonnummer hatte er nicht genannt. Er ging davon aus, dass ich sie hatte.
    Minutenlang saß ich auf Jonahs Bett, den Hörer in der Hand, wie ins Gebet vertieft. Ich versuchte mich an eine Nummer in Atlantic City zu erinnern, die ich früher genauso im Schlaf gewusst hätte wie die Noten von »Honeysuckle Rose«. Wenn ich sie wiederfinden wollte, musste ich alles andere vergessen, vor allem die Hoffnung auf Erinnerung. Schließ-lich wählten meine Finger. Das Gedächtnis der Muskeln, genau wie die Klavierstücke, die in den Fingern immer noch da waren, selbst wenn ich sie längst vergessen hatte. Eine hohe Tonfolge am anderen Ende signalisierte die Staaten. Farben tief aus meinem Inneren kamen bei diesen Tönen an die Oberfläche. Ich saß da und genoss sie – Coltrane, Sahneeis, die Sonntagsausgabe der Times, der schleppende Tonfall der Atlantikküste. Wie ein Penner, der das Schaufenster eines Schnapsladens studiert.
    Die Nummer existierte nicht mehr. Eine Stimme mit spanischem Akzent nannte mir eine andere. Der Mut verließ mich zusehends, als ich die neue Nummer wählte. Dann nahm sie ab. Einen Moment lang war es, als riefe ich an, um zu sagen, dass ich später zum Frühstück kam. Auch das die Erinnerung der Muskeln, die bestehen bleibt, bis die Muskeln still stehen. Ich hörte, wie ich fragte: »Teresa?« Und eine Sekunde später, bevor sie etwas antworten konnte, hörte ich mich ein zweites Mal fragen. Es war das Echo meiner Stimme, das so lange brauchte, bis es zu mir zurückkehrte, auf der Schleife von Europa hinaus ins Weltall, nach Amerika, wieder hinauf zu dem Fernmeldesatelliten und zurück zu mir auf europäischen Boden. Ein einstimmiger Kanon.
    Sie erkannte mich sofort. Sie stammelte, wollte meinen Namen sagen und brachte ihn nicht heraus. Schließlich kam ein komisches, krächzendes »Jo-ey!« Der Name, bei dem sie mich fast nie genannt

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