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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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etwas zu sagen. Aber Jonah war mein Bruder. Es gab nichts, was wir nicht im Laufe unseres Lebens gemeinsam getan hatten. Wir kannten nichts von der Welt außer einander. Er hatte es mir beigebracht und ich ihm: Alle Musik lebte und starb in den Pausen dazwischen. Irgendwann gegen vier sagte er: »Ruf sie an.« Er hatte die Uhr im Auge behalten, kannte den Zeitunterschied, hatte bis zum letzten Augenblick gewartet, an dem ein solcher Anruf noch mit Anstand zu machen war.
    Ich wuchtete mich aus dem Bett, warf einen Morgenmantel über, und wieder saß ich da mit einem Telefonhörer in der Hand. Ich wollte ihn Jonah geben, aber der winkte ab. Mir hatte sie ihre Nachricht geschickt, nicht ihm. Ich wählte die Nummer, so methodisch, als ob ich Tonleitern übte. Wieder das Klimpern einer amerikanischen Telefonglocke, gefolgt von transatlantischem Echo. Zwischen den Tönen verwarf ich tausend Worte, mit denen ich mich hätte melden können. Ruthie. Ruth. Ms. Strom. Mrs. Rider. Lachen, Weinen, Flehen um Verzeihung. Nichts klang echt. Ruth. Hier ist Joseph. Dein Bruder. Dann das Klicken, als auf einem anderen Kontinent der Hörer abgenommen wurde, der Klang einer Stimme, die alles, was ich mir zurechtgelegt hatte, unmöglich machte. Statt meiner Schwester ein alter Mann. »Hallo?«, fragte er. Ein Mann, der klang, als wäre er hundert Jahre alt. Ich erstarrte, als ich diese Stimme hörte, es war schlimmer als das schlimmste Lampenfieber. »Hallo? Wer ist da? Wer spricht da?« Im Hintergrund Stimmen, die fragten, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ganze Leben schlossen in einer Schleife wieder an ihrem Anfang an. »Dr. Daley?«, fragte ich. Und als er es mit einem Brummen bestätigte, sagte ich: »Hier spricht Ihr Enkel.«

DIE   HEIMSUCHUNG
     
    Bei meinem Telefonat mit Philadelphia wich Jonah mir nicht von der Seite. Aber er wollte den Hörer nicht nehmen, als ich ihn ihm hinhielt. Sprechen ohne Gesang machte ihm Angst. Er wollte mich als Puffer und Bindeglied zwischen sich und der Welt, aus der wir kamen. Mein Groß-vater holte Ruth an den Apparat. Sie wollte mir berichten, was mit Robert geschehen war, aber sie brachte kaum ein Wort heraus. Keine Wut, keine Wärme, keine Erinnerung sprach mehr aus ihrer Stimme. Nur noch der Schock. Der Monat seit dem Tod ihres Mannes hatte ihr nicht zurück ins Leben geholfen. Und auch Jahre sollten nicht helfen.
    Zwei tonlose Sätze murmelte sie. Dann gab sie den Hörer an unseren Großvater zurück. William Daley verstand nicht ganz, welcher von Ruths beiden Brüdern ich war. Ich sagte ihm, ich würde ihn gern besuchen kommen. »Junger Mann, vor sechs Wochen bin ich neunzig geworden. Wenn du mich noch besuchen willst, dann nimmst du besser das erste Flugzeug, das du bekommen kannst.«
    Ich erklärte Jonah, dass ich nach drüben wolle. Er verzog die Miene bei dem Gedanken, halb Versuchung, halb Abscheu. »Du kannst nichts mehr in Ordnung bringen, Joey. Das weißt du, oder? Du kannst nichts ungeschehen machen.« Doch auch wenn er mich mit der einen Hand festhielt, stieß er mich mit der anderen fort. »Aber geh nur, geh sie besuchen. Selbstverständlich. Einer von uns muss es tun. Für Ruth. Jetzt wo sie wieder da ist.« Offenbar hielt er es immerhin für denkbar, dass ich die Sachen in Ordnung brachte, die noch nicht geschehen waren.
    Ich kaufte ein Ticket mit offenem Rückflug. Ruth war wieder da. Aber eigentlich war sie ja nie fort gewesen. Wir waren diejenigen, die in die Fremde gegangen waren.
    Mein Onkel Michael holte mich am Flughafen von Philadelphia ab. Es war nicht schwer, ihn in der Menschenmenge zu finden. Ich musste nur hinsehen. Und auch er erkannte mich sofort, als ich aus der Ankunfts-schleuse kam. Es war ja auch nicht schwer. Verwirrter Knabe mittleren Alters und unbestimmter Rasse, der halb aufgeregt, halb verschämt die Gesichter der Wartenden mustert. Ich ging auf ihn zu, schob meine zwei Stücke Bordgepäck vor mir her wie zwei widerspenstige Kinder. Mein Onkel kam mir entgegen, genauso aufgeregt wie ich, aber er hatte beide Hände frei. Einen Moment lang zögerte er, dann fasste er mich mit einer seltsamen, beglückenden Selbstverständlichkeit bei den Schultern. Ich kenne dich nicht. Kann mir gar nicht erklären warum. Aber das werden wir ändern.
    Es amüsierte ihn, wie verlegen zwei Wildfremde miteinander sein konnten. Und Wildfremde waren wir, obwohl Blutsverwandte in einem anderen Leben. »Erinnerst du dich an mich?« Ich erinnerte mich tatsächlich. Vier Minuten

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