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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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mich wieder mit meiner Familie versöhnt. Meinem Vater. Genau was du immer gesagt hast. Du hattest Recht, mit allem.«
    Ich verabschiedete mich, so förmlich, dass es wie eine Maschine klang. Schwankend richtete ich mich auf. Jonah sah mich erwartungsvoll an. »Es ist Robert.«
    »Robert.«
    »Robert Rider. Dein Schwager. Die Polizei hat ihn erschossen, schon vor über einem Monat. Es gab ein Handgemenge. Bei einer Verhaftung. Ich ... habe die Einzelheiten nicht mitbekommen.«
    Jonahs Schultern spannten sich. Welche Einzelheiten? Mit dem Tod waren die Einzelheiten erledigt. Ich sah ihm an, wie verstoßen, wie ausgeschlossen er sich fühlte. Mich hatte Ruth versucht zu erreichen, nicht ihn. Die Anrufe, die Nachrichten, waren für mich allein. Nicht ein einziges Mal hatte sie nach ihm gefragt. »Wie geht es ihr?«
    »Teresa wusste es nicht.«
    »Ich meinte Teresa.« Er zeigte mit dem Finger auf die eigene Brust. Gib das mir. Ich wusste erst nicht, was er meinte, bis ich sah, dass ich den Zettel mit der Telefonnummer schon ganz zerknittert hatte. Ich reichte ihn ihm. »Vorwahl zwei-eins-fünf. Wo ist das?«
    Keine Nummer, die ich kannte. Er wies auf das Telefon. Ich schüttelte den Kopf. Ich brauchte Zeit. Zeit, all die Zeit wieder zusammenzusetzen, die sich gerade vor meinen Augen aufgelöst hatte.
    Am Abend traten wir auf. Ich war sicher, dass es eine Katastrophe werden würde. Aber irgendwie überstanden wir das Konzert, sangen wie von selbst, so viel hatten wir geprobt. Es war der langsamste Josquin aller Zeiten. Diejenigen im Publikum, die nicht empört oder zu Tode gelangweilt waren, fielen durch die Ritzen des Auditoriumsbodens in die Unendlichkeit von Raum und Zeit. Man konnte sich streiten, was man davon hielt, aber keiner würde jemals wieder so etwas hören.
    In der Nacht lag ich wach und dachte an Ruth. Unsere Schwester war uns so weit voraus gewesen. Sie hatte den Sprung in die Zukunft schon gemacht, als Jonah und ich noch nicht einmal in der Gegenwart angelangt waren. Sie hatte gesehen, was kommen würde. Sie lebte den Albtraum, noch bevor ihre älteren Brüder überhaupt aus dem Traum erwacht waren. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass Ruth daran litt, dass sie so hellhäutig war; zu hell, um die schlimmsten Kränkungen des Rassismus zu erfahren. Aber an diesem Abend, in einem geschäftigen Hotel in Avignon, wo die meisten Gäste mich für einen Marokkaner hielten, begriff ich es endlich. Die schlimmsten Kränkungen des Rassismus sind farbenblind.
    Auch Jonah konnte nicht schlafen. Und was ihn wach hielt, war nicht der Josquin. Um drei Uhr morgens hörte ich ihn vor meiner Zimmertür. Er zögerte, wusste nicht, ob er anklopfen sollte. Ich rief ihn, und er trat ein wie jemand, der zu einer Verabredung kommt. »Pennsylvania«, sagte er. Ich konnte mir nur im Dunkeln die Augen reiben. »Vorwahl zwei-eins-fünf. Das ist Ost-Pennsylvania.« Ich überlegte, wie das zu meiner Schwester passte. Pas letzte Phantasie hatte sie in Kalifornien gesehen. Und seither hatte ich mir immer vorgestellt, dass sie dort lebte. Jonah ging ans Fenster und zog den Vorhang zurück. Am Horizont funkelte der Papstpalast wie eine riesige illuminierte Handschrift aus gotischer Zeit. »Ich habe nachgedacht.« So wie er es sagte, klang es, als seien es Jahre gewesen. »Ich denke, sie hat Recht. Ich denke, Ruth hat Recht. Was das ... Feuer angeht, meine ich. Es kann nicht anders gewesen sein.«
    Er blickte zum Fenster hinaus, hinaus auf all die Gewalt, die er so lang und so erfolgreich geleugnet hatte. Das Wenige, was Jonah über Robert wusste, wusste er von mir. Die Umstände von Roberts Tod waren für uns beide unerforschlich wie Gott. Aber sein Tod bekräftigte die eine, zentrale Tatsache unseres Lebens, diejenige, die wir stets im Abstrakten gelassen hatten, so abstrakt wie die Kunst, der wir uns verschrieben hatten. Wir taten, als kämen wir nicht aus einem Land, in dem Mord an der Tagesordnung war. Wir versteckten uns in Konzertsälen, unserer Zuflucht vor den echten Klängen dieser Welt. Aber dreißig Jahre zuvor – ein ganzes Menschenleben –, lange bevor wir verstanden hatten, wie wir diese Ereignisse zu deuten hatten, hatte willkürliche Gewalt uns in alle Winde zerstreut. Jetzt, mit Jonahs Worten, wurde die Erkenntnis zur Selbstverständlichkeit. Und genauso offensichtlich wurde, dass ein Teil von mir das von Anfang an gewusst hatte.
    Lange Zeit stand er so am Fenster, ohne ein Wort. Und auch ich brachte es nicht fertig,

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