Der Klang der Zeit
Schock der Gegenwart zu taumeln. Selbst die prachtvollsten alten Häuser waren ohne Erben gestorben. Wir bogen in die Einfahrt eines weitläufigen Hauses, das den Wellen, die von allen Seiten anbrandeten, noch trotzte. Michael schaltete das Radio aus. Er sah, wie ich lächelte. »Alte Gewohnheit.«
»Nicht seine Art von Musik?«
»Bring bloß nicht die Sprache drauf.«
Wir waren noch Meter vom Haus. »Und sein Gehör ist wirklich so gut?«
»Das kannst du glauben. Von irgendwo müsst ihr es doch haben, oder?«
Der Schock dieses Gedankens hallte noch in mir nach, als eine Gestalt aus dem Haus trat und uns entgegenkam. Eine kräftige, sinnliche Frauengestalt, eine Schattierung heller, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich war so schnell draußen, dass ich überhaupt nicht merkte, wie ich aus dem Auto stieg. Michael blieb noch hinter dem Steuer sitzen, ließ uns einen Moment Zeit für uns allein. Sie senkte den Blick, als ich näher kam. Sie wollte mich nicht ansehen. Dann schlang ich die Arme um meine Schwester.
Ruth ließ sich die Umarmung nicht widerstandslos gefallen, aber sie hielt länger still, als ich sie je im Leben im Arm gehalten hatte. Volle drei Sekunden: Das war genug. Sie trug ein rotes Gewand und dazu einen grün-schwarzen Kopfschmuck; selbst ich sah, dass er afrikanisch wirken sollte. »Ruth. Lass dich ansehen. Wo bist du gewesen?«
»In der Hölle. In Amerika. Und du, Joseph?« Die Augen, tiefer denn je in ihren Höhlen, hatten allen Glanz verloren. Die Haltung ihrer Arme kam mir seltsam vor. Ich war noch länger von ihr fort gewesen als sie von mir.
»Du hast mir gefehlt.« Fast schon ein Ritual.
»Warum kommst du jetzt, Joey? Jede Woche werden Schwarze umgebracht. Warum hast du gewartet, bis es ...?«
Deinetwegen, Ruth. Deinetwegen komme ich zurück. Nichts anderes wäre stark genug gewesen.
Ein Junge, fünftes Schuljahr vielleicht, tauchte neben uns auf. Ich hatte ihn nicht kommen sehen und fuhr zusammen, als er so plötzlich da stand. Er war dunkel, näher an Michael als an Ruth und mir. Michael war ausgestiegen, und ich drehte mich zu ihm um, froh über die Ablenkung. Ich wies auf den Jungen. »Deiner?«
Michael lachte. »Mann, du warst wirklich lange weg. Deine Zeitma- schine klemmt. Meine älteste Tochter hat einen, der fast so groß ist wie» der hier!«
»Das ist meiner«, sagte Ruth.
»Ich gehöre niemandem«, protestierte der Junge.
Meine Schwester seufzte. »Kwame. Das ist Joseph. Dein Onkel.« Der Junge sah uns an, als wäre es eine Verschwörung, als wollten wir ihn um sein Erbe betrügen. Das ist nicht mein Onkel. Er brauchte es nicht zu sagen. Man hörte es auch so. Ruth seufzte noch einmal. »Oakland. Da haben wir gelebt. Oakland.« Ich spürte dieses Wort, wie es mir kalt über den Rücken lief, wie eine Prophezeiung. Kalifornien. »Da haben wir gearbeitet. Gemeindearbeit.«
»Und dann haben die Bullen meinen Dad umgebracht«, sagte Kwame.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Er schüttelte sie ab. Ruth legte die Hand auf genau die gleiche Stelle, und er ließ es sich gefallen, aber mehr auch nicht. Ruth steuerte ihr Kind in Richtung Haus, und wir Männer folgten. Der Vater meiner Mutter wartete gleich hinter der Tür. Das kurz geschnittene Haar war weiß wie die Niagarafälle. Eine Aura umgab ihn, wie die Marken, die die Flut an einem Strand zurücklässt, und ließ noch spüren, was für ein großzügiger Mann er einmal gewesen war. Er trug einen stahlgrauen Anzug. Alle hatten sich fein gemacht für diesen Besuch, alle außer mir. Er legte den Kopf in den Nacken, damit er mich durch die untere Hälfte seiner Brille betrachten konnte. »Jonah Strom.«
»Joseph«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.
Mein Widerspruch ärgerte ihn. »Bis heute kann ich nicht begreifen, warum sie euch beiden denselben Namen gegeben hat. Aber egal.« Und auf Deutsch: »Es freut mich, Herr Strom.« Er nahm meine Hand, gerade in dem Augenblick, in dem ich sie sinken ließ. »Ich heiße Sie willkommen zu unserem Haus.«.
Ich stand mit offenem Munde da. Lachend nahm Onkel Michael mein Gepäck, um es nach oben zu tragen. »Lass dir nichts vormachen. Daran hat er die letzten drei Tage
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