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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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lang hatte ich ihn gesehen, mit dreizehn, vor einem Dritteljahrhundert, bei der Totenfeier für meine Mutter. Und was mich noch mehr verblüffte: er erinnerte sich an mich. »Du hast dich verändert. Du bist ...« Er schnippte mit den Fingern, suchte nach einem Wort.
    »Älter geworden?«, schlug ich vor. Er klatschte in die Hände, dann zeigte er auf mich: Das ist es.
    Er nahm eine der beiden Taschen, und wir machten uns auf den langen Weg zum Parkplatz. Er erkundigte sich nach dem Flug, nach Europa, nach meinem Bruder. Ich fragte, wie es Ruth gehe – sie war am Leben; Dr. Daley – ebenfalls, und noch bemerkenswert munter. Michael erzählte mir von seiner Frau, seinen Kindern, dem Leben, das er jetzt führte. Er war im Personalbüro der Penn State. »Meinen Nebenjob als Chauffeur mache ich nur nach Feierabend und nur, wenn verschollene Verwandte von den Toten heimkehren.« Immer wieder sah er mich an, kam aus dem Staunen über diese Verwandtschaft nicht heraus. Wir konnten es beide nicht fassen, wie ähnlich wir uns sahen. Ich hatte den Eindruck, er überlegte, ob sein eigener Neffe denn wirklich ein Weißer sein konnte.
    Sein Auto war ein Ozeandampfer. Jahre in einem Land, in dem alles kleiner ist, verändern den Maßstab. Michael ließ den Motor an, und eine Schallwelle schlug mir aus dem Lautsprecher entgegen. Nur zwei Takte, aber in einer Lautstärke, die ich nicht mehr gewohnt war, von einer Rhythmusgruppe, die wuchtiger war als die Sklavenzeit lang. Es war Ewigkeiten her, dass ich so etwas zuletzt gehört hatte. Beinahe verlegen beugte Michael sich vor und schaltete es aus.
    »Nicht. Meinetwegen musst du es nicht abstellen.«
    »Nur alter R & B. Meine Medizin. Meine Kirche. Das höre ich, wenn ich allein bin.«
    »Hörte sich wunderbar an.«
    »Man sollte ja denken, ein Mann schon gut in den Fünfzigern ist über so was hinaus.«
    »Erst wenn wir tot sind.«
    »Amen. Und nicht mal dann.«
    »Früher habe ich solche Sachen selber gespielt.« Er warf mir einen verblüfften Blick zu. »In Atlantic City. Soloklavier, mit Trinkgeldglas auf dem Notenständer. Liberace goes Motown. Die alten osteuropäischen Einwanderer, die da Urlaub machen, konnten gar nicht genug davon bekommen.«
    Michaels Hustenanfall war so heftig, ich überlegte, ob ich das Lenkrad festhalten sollte.
    »Menschen sind schon merkwürdig.«
    Er pfiff eine kleine Melodie. »Da hast du Recht. Einer merkwürdiger als der andere.« Er schaltete die Musik wieder ein, aber er dämpfte die Lautstärke. Wir lauschten gemeinsam, und jeder hörte, was er brauchte. Als wir in der Innenstadt anlangten, sangen wir schon zusammen. Michael schmetterte lauthals in einem urkomischen Falsett, und ich improvisierte die Bassstimme. Michael lächelte, als er meine Harmonien hörte. Ein wenig Theorie kann einen Mangel an Seele gut verkleiden – in den einfacheren Tonarten zumindest.
    Wir verließen den Highway und kamen in Wohnviertel. Nach Jahren im alten, buckligen Gent verblüfften mich selbst mittlere Apartmenthäuser mit ihren Ausmaßen. Wir näherten uns dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Michaels Stimmung sank. »Auch nicht mehr was es mal war. Geht ziemlich den Bach runter mit der Innenstadt. Selbst der armseligste Krauter produziert jetzt offshore. Und dann sollen wir es gewesen sein, weil wir Crack rauchen.«
    Eine fremde Sprache. Ich hätte nicht einmal gewusst, wonach ich fragen sollte.
    Michael blickte zum Fenster hinaus, sah das alte Viertel mit meinen Augen. Der Kummer über diesen Niedergang stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Du hättest diese Straße früher sehen sollen. So gepflegt. Und heute? Nicht mehr wiederzuerkennen. Schon seit fünf Jahren versuchen wir, den Doktor hier herauszubekommen. Aber er weigert sich. Er will in dem Haus sterben, in dem er gelebt hat. Will nicht wahrhaben, wie alles verfällt. Entweder kracht die alte Bude eines Tages über ihm zusammen, oder sein Körper gibt auf, je nachdem, was früher kommt. ›Was soll denn aus Mama werden, wenn wir das Haus an Fremde verkaufen?‹«
    »Mama?« Meine Großmutter. Nettie Ellen Daley. »Sie ist auch noch ...«
    »Nein. Das nicht. Seit vorletztem Jahr unter der Erde. Aber der Doktor glaubt es immer noch nicht so ganz. Ein sturer Bursche, das wirst du noch merken. Meine Schwestern und ich kommen fünfmal die Woche her, den ganzen Weg. Bei uns sind die Haushälterinnen schneller verschwunden als bei einem Hund die Schokolade.«
    Tatsächlich schien die ganze Straße unter dem

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