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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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eine Stadtbibliothekarin, die einem ratlosen Benutzer behilflich sein will. Was konnte ich noch wissen wollen? Über Roberts Tod, über Robert, über die Polizei, über die Anhörung, über Oakland, über die Justiz, über das älteste Lied aller Zeiten, über das Lied der Lieder, das alle anderen übertönt? Wie könnt ihr singen? Wie könnt ihr bei alldem diese Lieder singen ? »Du kannst mich ruhig fragen. Ich weiß alle Einzelheiten. Ich weiß alles, was dort geschehen ist, auch wenn ich nicht dabei war. Das ist die Falle, die sie für mich aufgestellt haben, Joey. Immer wieder neu. Wie soll ich mit dieser Sache je fertig werden? Was soll ich dir erzählen?«
    Ich rechnete damit, dass sie jeden Moment die Beherrschung verlor. Dann ging mir auf, dass sie überhaupt nicht zu mir sprach. Diese beiden letzten Fragen waren für ihren Sohn bestimmt, der auf ihren Arm saß, mich anlächelte und versuchte zu singen.
    Ruth wandte sich wieder mir zu, wie in Trance. »Du solltest jetzt schlafen.« Es klang wie ein Vorwurf. Aber es war zu spät für mich, noch meinen Lebenswandel zu ändern. Nicht mitten in der Nacht.
    Auf Schlaf hätte ich lange warten können. Noch um zwei Uhr morgens lag ich wach, wälzte mich in meinem Bett hundertmal hin und her, bevor der Minutenzeiger der Uhr eine einzige Umdrehung gemacht hatte. Ich wusste nicht, wo ich war: Im oberen Stockwerk, in einem fremden Bett, in einem Haus, dessen verbotenes Bild mich mein ganzes Leben lang begleitet hatte, auch wenn ich es nie wirklich vor mir gesehen hatte. Wenn ich eindöste, heulten in meinen Träumen die Polizeisirenen, Pis-tolenschüsse knallten.
    Um halb sechs hielt ich es in meinem gepolsterten Sarg nicht mehr aus und ging nach unten. Ich wollte dort sitzen, bevor die anderen erwachten, mich heimlich in dieses Haus zurückschleichen, das ich vor so langer Zeit verloren hatte. Als ich nach unten ging, sah ich Jonah, wie er hinter unserem Onkel Michael die Treppe hinaufstürmte, und ein Junge von knapp vier Jahren mühte sich, mit den beiden Schritt zu halten. Eine Naturgewalt stand am unteren Treppenende und rief: In meinem Haus wird nicht getobt! Das Haus war zusammengeschrumpft, wie ein Fötus in Formaldehyd. Nur die Konturen der Treppe blieben und der Klang unserer Schritte.
    Aber ich war nicht der Erste, der aufgestanden war. Dr. Daley saß am Küchentisch, über die Zeitung des Vorabends gebeugt. Er trug ein frisches Hemd und eine andere Krawatte. Er blickte auf, als er mich hörte. Er hatte auf mich gewartet, trotz der frühen Stunde. Er blickte mich forschend von seinem Stuhl aus an, fragte mich wortlos, was wir tun sollten mit einer so ungeheuerlichen Verschwendung. Wer brachte Leute dazu, das fortzuwerfen, was sie am allerwenigsten verlieren wollten?
    »Kaffee?«
    »Gern.«
    »Wie magst du ihn?«
    »Ich ...«
    Ein Anflug von Heiterkeit umspielte seine Mundwinkel. »Milchkaffee? Halb und halb?«
    »Etwas in der Art.«
    Er wies mir einen Platz an und brachte mir Kaffee, genau richtig, als hätte er mir schon oft zugesehen, wie ich ihn machte. Die gleiche Farbe wie die Hand meiner Schwester. Dr. Daley setzte sich mir gegenüber und faltete die Zeitung ordentlich zusammen. »Willst du meine Definition des Lebens hören? Aber natürlich willst du das. Kleinkrieg und Kaffee, Tag für Tag. Also gut. Fangen wir an – hast du mit deiner Schwester gesprochen?«
    »Kurz.«
    »Du weißt also, zu was du heimgekehrt bist.« Ich nickte, obwohl ich nichts wusste. Das Nicken galt dem Wort »heimgekehrt«. Einen Moment lang schwieg er, eine Grabrede, die er schon zu oft in seinem Leben hatte halten müssen. Er kniff die Lippen zusammen und kehrte zurück in die unbewohnbare Welt. »Dann zum nächsten – dein Vater.«
    Erst nach einem langen Schluck begriff ich, dass es eine Frage war. Aber ich wusste nicht, wonach er fragte. »Ich ... mein Vater?«
    »Ja. David. Wie geht es ihm?« Er sah mich nicht an. Kein Mensch wusste auch nur das Geringste über den anderen.
    »Wer kann das wissen?«, sagte ich. Mehr brachte ich nicht heraus.
    Mein Großvater blickte auf, stellte die Diagnose. Kaum merklich hob und senkte sich sein Kinn. »Verstehe. Wie lang ist das her?«
    »Zehn Jahre. Nein – zwölf. Fast dreizehn. 1971.«
    »Verstehe.« Er vergrub das Gesicht in den Händen. Er hatte länger aus-gehalten als alle anderen. »Deine Schwester wird es wissen wollen. Das ist dir klar?«
    »Da wäre ich mir gar nicht sicher. Nach allem, was geschehen ist.«
    Er starrte

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