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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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mich ärgerlich an. »Natürlich will sie es wissen! Meinst du, eine einzige Woche ist vergangen, in der sie nicht an ihn gedacht hat?«
    Allmählich verstand ich, was es geheißen hatte, diesen Mann zum Vater zu haben. Lange Zeit saßen wir schweigend. Ich trank meinen Kaffee; er starrte finster vor sich hin. Schließlich schnaubte er: »›Wer kann das wissen?‹« Er nickte, amüsierte sich über die Formulierung. »Dein Bruder?«
    Mein Bruder. Mein halbes Leben hatte ich damit verbracht, Fragen nach meinem Bruder zu beantworten. »Dem geht's gut. Er wohnt in Belgien. Singt alte Musik.«
    Mein Großvater bewegte nicht einmal den Kopf. Für solche Albernheiten habe ich keine Zeit. Ich habe dir eine einfache Frage gestellt. Willst du nun antworten oder nicht? »Bekomme ich meinen ältesten Enkel noch einmal zu Gesicht, bevor ich sterbe?«
    Ich spürte, wie das Blut mir ins Gesicht stieg. »Das ... Wer kann das wissen? Bei Jonah weiß man nie.«
    Opapa grinste wissend. »Immer noch seinen eigenen Kopf. So war er schon mit sechs Monaten. Und was meinst du, findet er seine Freiheit?«
    Er klang wie ein Richter, auch wenn er das Urteil noch suspendierte.
    Aber ich hatte meine Vermutung, wie es ausfallen würde. »Du musst ihn singen hören.« Die einzige Antwort, die groß genug war für die Frage.
    Dr. Daley erhob sich und nahm meine leere Kaffeetasse. Ich stand auf und wollte helfen, aber er scheuchte mich auf meinen Platz zurück. »Die Aussichten sind nicht groß, dass mir das in diesem Leben noch vergönnt ist.« Er spülte meine Tasse und stellte sie mit zitternden Fingern auf die Ablage, neben seine. »Schon mehr als einmal habe ich versucht deiner Schwester zu erklären, was uns auseinander gebracht hat. Sicher, der Wahnsinn, der so tief in uns sitzt, egal welche Farbe die Haut hat. Aber täusche dich nicht. Wir haben ihm unseren eigenen Stempel aufge-drückt. Dein Vater und ich. Deine Eltern ...«
    Er kehrte zurück an den Frühstückstisch und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, an dem Platz, an dem er seit einem halben Jahrhundert sein Frühstück aß. Der Tisch war immer noch derselbe, auch wenn sich alles in seiner Umgebung verändert hatte.
    »Deine Eltern glaubten, sie könnten die Regeln umschreiben. Die Regeln, die die Vergangenheit diktiert.« Er blickte hinaus auf den Frühlingsrasen, versuchte sich vorzustellen, was die beiden sich ausgemalt hatten. »Sie wollten einen Ort, an dem es ebenso viele Kategorien wie Einzelfälle gab. Aber sie mussten euch ja trotzdem hier in dieser Welt großziehen.« Seine Stimme klang verzweifelt, ein Wettlauf gegen die Zeit. »Sie wollten einen Ort, an dem jeder seine ganz persönliche Hautfarbe haben konnte.« Er schüttelte den Kopf. »Aber genau das bedeutet doch Schwarzsein. Es gibt keinen Farbton, der nicht darin enthalten ist. Ihr hattet genauso wenig zwei Farben wie jeder andere von uns. Eure Mutter hätte das wissen müssen.«
    Wir hörten Schritte auf der Treppe, und meine Schwester trat in die Küche. Sie hatte den kleinen Robert auf dem Arm, aber sie trug eine schwerere Bürde. Sie hatte dasselbe rote Gewand an wie tags zuvor. Meine Schwester die Witwe. Ihr Gesicht war verquollen, so früh am Morgen. »Das Kind hat mir keine Minute Ruhe gelassen.« Wie auf Stich-wort krähte der Kleine vor Vergnügen. Wie hielten die beiden das aus?
    »Das ist dein Beruf.« Unser Großvater, sein Leben lang praktischer Arzt, stand auf und brühte Kaffee für Ruth. Offenbar ein altes Ritual. An mich gewandt, fuhr er fort: »Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.«
    Ruth brauchte keine Einführung. Sie hatte auf der Treppe genug gehört. Sie schüttelte den Kopf. »Du hast nichts getan, Opapa. Es war ein Hirngespinst. Mama hat einen Weißen geheiratet. Im vollen Bewusst–sein.«
    »Ich war zu stolz. Das hat eure Mutter mir immer vorgehalten.« Er stutzte. »Eure Großmutter, meine ich.« Er brachte Ruth ihren Kaffee –schwarz, mit einem Löffel Zucker. »Ich hatte Angst. Angst, dass ich mich in ihrer Idee verlieren könnte. Ich war verbohrt und selbstgerecht. Ich fürchtete –«
    »Du hattest Angst vor der ganzen weißen Scheiße«, fiel Ruth ihm ins Wort. »Arschlöcher, einer wie der andere.«
    »In meinem Hause wird nicht geflucht.«
    »Ja, Opapa.« Sie senkte das Haupt, eine Neunjährige im Angesicht dieses Neunzigjährigen.
    »Ich habe eure Großmutter für meine Prinzipien büßen lassen. Durch meine Schuld hat sie ihre Tochter, ihre Enkelkinder verloren.

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