Der Klang der Zeit
geübt.«
»Er kann dir auch ein Hotel reservieren oder Geld wechseln«, sagte Ruth.
Dr. Daley blickte finster drein, als werde er gleich in Sturm und Drang ausbrechen. »Sie nehmen keine Rücksicht auf andere.« Er musste schon länger als drei Tage geübt haben.
Ruth legte ihm den Arm um die Schultern. »Schon in Ordnung, Opapa. Er ist kein Fremder. Er ist einer von uns.«
Aus dem Flur zu meiner Rechten kam Babygeschrei. Ein verblüffender Laut: Der Ruf eines Geschöpfes, das ganz und gar dem Unbekannten ausgeliefert war. Ruth war schon in Bewegung, bevor ich den Schrei überhaupt gehört hatte. Sie verschwand in einem Zimmer am anderen Ende des Flurs, murmelte etwas vor sich hin und kehrte mit einem strampelnden Kind zurück, das sich nach Kräften mühte sich loszureißen, in die Freiheit oder in den Tod.
»Auch meiner«, sagte Ruth. »Das ist der kleine Robert. Fünf Monate. Robert, das ist dein Onkel Joey. Von dem habe ich dir noch gar nicht erzählt.«
Michael hatte mich im oberen Stockwerk einquartiert. »Das war das Zimmer meines Bruders. Wir stecken Kwame in das alte Zimmer der Zwillinge.« Ich entweihte ein Heiligtum. Aber wohin sollte ich sonst gehen? »Schläferst mal«, sagte mein Onkel zu mir. »Das hast du wahrscheinlich nötig.« Dann fuhr er zu seinem eigenen Zuhause.
Ruth kam und wollte sehen, ob alles in Ordnung war. Sie hatte den kleinen Robert im Arm, der von Zeit zu Zeit mit dem Händchen nach mir patschte, um sich zu vergewissern, dass ich echt war. Meine Schwester redete unablässig mit ihm, manchmal Worte, manchmal einfach nur Laute. Nur einmal hielt sie inne und fragte: »Geht's dir gut?«
»Jetzt schon.«
Sie schüttelte den Kopf, blickte das Baby an, aber sprach zu mir.
»Brauchst du irgendwas?«
»Du nennst ihn Opapa.«
Der kleine Robert sah mich an. Seine Mutter weigerte sich. »Ja. Kwame auch. Schon seit Jahren.« Dann drehte sie sich zu mir: Hast du vielleicht was dagegen? »Er hat uns erzählt, ihr hättet ihn immer so genannt.«
»Ruth?«
»Nicht jetzt, Joey. Morgen vielleicht. In Ordnung?«
Mit einem Male wurde ihr ganzer Körper schlaff, als sei eine Sehne durchtrennt worden. Sie beugte sich vor, und das Baby schien plötzlich unerträglich schwer. Sie ließ sich ans Fußende des Bettes sinken. Ich setzte mich neben sie und legte ihr den Arm um den Rücken. Ich konnte nicht sagen, ob es ihr ein Trost war. Sie begann zu schluchzen, ihre Muskeln hoben und senkten sich rhythmisch. Es war nur ein leichtes Zucken, beherrscht, weniger als ein winterlicher Ast, der am Hausdach scheuert. Erst als auch der kleine Robert zu weinen begann, fand sie die Kraft zu sprechen.
»Das ist alles so alt, Joey. So alt.« Sie zwang sich zur Ruhe. Sie hätte alles Erdenkliche damit meinen können. Jedes menschliche Leid war älter als die Worte, in die man es fassen konnte.
»Das Nummernschild hing schief. Es war ein Donnerstagabend, er war auf dem Nachhauseweg. Nicht einmal besonders spät – neun Uhr fünfunddreißig. Nicht mal ein besonders verrufenes Viertel. Er kam von einer Stadtratssitzung. Wir wollten ein Asyl bauen. Der Mann arbeitete Tag und Nacht. Ich war zu Hause mit Kwame und ...« Sie hob den kleinen Robert in die Höhe, ihr Gesicht schmerzverzerrt. Ich umarmte sie fester: Morgen war früh genug. Oder nie.
»Zwei Polizisten zwangen ihn zum Anhalten. Ein Weißer, ein Latino. Weil sein hinteres Nummernschild ein bisschen schief hing. Am Tag vorher hatte Robert noch gesagt, das müsse er anschrauben. Er stieg aus. Er stieg immer aus, wenn die Polizei ihn anhielt. Er wollte auf gleicher Höhe mit ihnen sein. Er stieg aus und wollte ihnen sagen, dass er das mit dem Schild wusste. Aber die wussten längst alles über das Schild. Das kam bei der Verhandlung heraus. Als sie ihn anhielten, hatten sie schon die Anfrage losgeschickt. Die zwei Bullen sahen einen kräftigen, gefähr-lichen ehemaligen Panther aus dem Auto steigen und auf sie zukommen. Robert hatte seine Brieftasche immer vorn in der Jacke. Sagte, er wolle nicht auf seinem Vermögen sitzen. Er steckte die Hand in die Jacke, um seine Papiere herauszuholen, und die Bullen sprangen
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