Der Klang der Zeit
Ich durfte nicht dabei sein, als ihr ...«
Ruth stand auf und tauschte das Baby gegen eine Tasse Kaffee. Sie nahm einen Schluck. Dann ging sie an den Herd, kochte Brei und zerdrückte Obst für den kleinen Robert. »Das ist nicht wahr, Opapa. Es war nicht deine Schuld.« Der alte Mann hielt sich die Hand an den Kopf, als wolle er den Aufprall der Worte mildern. »Großmutter stand immer auf deiner Seite.«
»Und auf wessen Seite stand ich?«, fragte Dr. Daley, an niemand Bestimmten gerichtet. Niemanden, der ihn hören konnte. »Hypodeszenz. Habt ihr das Wort schon einmal gehört?« Ich nickte. Ich war der Inbegriff dieses Wortes. »Es bedeutet, dass ein Mischlingskind immer der Kaste mit dem geringeren Status angehört.«
Mit der einen Hand fütterte Ruth den kleinen Robert, mit der anderen machte sie eine weit ausladende Bewegung. »Es bedeutet, dass die Weißen gar nicht auf so viel aufpassen können, wie sie sich zusammengestohlen haben; dass sie die Herren nicht mehr von den Sklaven unterscheiden können, es sei denn, sie spielen die Reinrassigen. Und rein sind sie ja. Die reine Erfindung. Ein Tropfen genügt? Und das seit den Anfängen der Menschheit? Jeder Weiße in Amerika ist ein Schwarzer, der nur so tut, als sei er weiß.«
Er überlegte einen Moment lang. »Hypodeszenz bedeutet, dass wir alle anderen bei uns aufnehmen sollen. Alle, die nicht weiß sind.«
»Amen«, sagte Ruth. »Jeder, den nicht die Inzucht zum Kretin gemacht hat, ist schwarz.«
»Jeder. Jedes Halbblut und Viertelblut und Zweiunddreißigstelblut. Da hätten wir auch für euch Platz gehabt.«
»Du solltest dir keine Vorwürfe für das machen, was andere Leute getan haben.«
Er hörte sie nicht. »Wir alle! Habt ihr denn geglaubt, ihr drei seid allein?« Er sah mich flehend an, als müsse ich nur nicken, und das alte Unrecht wäre getilgt. »Habt ihr geglaubt, ihr seid die Ersten auf der Welt, denen das widerfährt? Eure Großmutter war halb weiß. Meine Familie. Gezeugt von ihren Besitzern. Der Name sogar. Die ganze Rasse. Seht euch doch nur im Spiegel an. Seit dreihundert Jahren fließt europäisches Blut in unseren Adern. Ich habe oft überlegt, wie Amerika aussähe, wenn die Regel umgekehrt gewesen wäre. Wenn ein Tropfen weißes Blut genügt hätte, um einen Amerikaner weiß zu machen.«
»Opapa«, warf Ruth beschwichtigend ein, »im Alter wirst du doch noch senil.«
»Eine mächtige Nation. So gut, wie sie sich in ihren Idealen darstellt.«
»Es wären jedenfalls nicht diese Vereinigten Staaten hier. So viel steht fest.«
Dr. Daley sah seiner Enkelin zu, wie sie seinen Urenkel fütterte, ein Wesen zu vorwitzig, zu aufgeweckt für diese Welt. »Ich habe zugelassen, dass dieser Wahnsinn meine Familie zerstört.«
»Meine hätten sie so oder so zerstört«, sagte Ruth.
Wir saßen da und schwiegen. Nur das Baby war mutig genug für ein paar zögernde Laute. Bald würde auch er Bescheid wissen. Sein Weg war vorgezeichnet, noch bevor er seinen eigenen Namen sprechen konnte: sein Vater, seine Großmutter, die ganze Kette des Leidens bis zurück zum Anfang aller Zeit. Hier konnte ich nicht bleiben. Und ich konnte auch nicht nach Europa in seinem Dornröschenschlaf zurück-kehren. Man hatte mir beigebracht, dass ich aus meinem Leben etwas machen müsse. Aber alles, was ich aus mir machen konnte, wäre eine Lüge.
Ruth war vor mir in dieser Zukunft angekommen. Sie hatte immer gewusst, dass ich sie eines Tages einholen musste. »Eins hat mich an dieser Ein-Tropfen-Regel immer gewundert. Wenn Schwarz plus Weiß Schwarz ergibt und wenn die Zahl der gemischten Ehen pro Jahr auch nur ein kleines bisschen über null liegt ...« Ruths Augen leuchteten bei dem Gedankenspiel, genau die Art von Rechenaufgabe, die ihr Vater so sehr gemocht hatte. Das, womit einst die Sklavenhalter ihr Eigentum geschützt hatten, war jetzt die einzige Waffe ihrer Opfer. Der Zeitpfeil war schwarz; ein buntes Völkchen würde sich versammeln, während die Reinrassigen ihren privilegierten Selbstmord begingen. »Rechnet es aus. Nur eine Frage der Zeit, dann ist ganz Amerika schwarz.«
»Aber ich dachte ...« Ich hasste mich für meine eigene Stimme. »Ich dachte, du bist dagegen, dass Schwarze und Weiße heiraten.«
»Schätzchen, ich bin dagegen, dass überhaupt jemand einen Weißen heiratet. Wer über die Grenzen heiratet, den werden die Grenzen sein Leben lang verfolgen. Aber
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