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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hinter ihre Türen in Deckung, Pistolen gezückt, brüllten ›Keine Bewegung‹. Er zog die Hand heraus, weil er die Hände heben wollte. Ich weiß es. Ich weiß genau wie er ...«
    Ruth reichte mir das Baby. Sie zuckte mit den Händen. Wusste nicht, wo sie sie lassen sollte. Dann fasste sie sich an den Kopf, als müsse sie das, was von ihrem Verstand geblieben war, wieder zurechtrücken.
    »Warum muss ich das überhaupt erzählen? Du weißt es doch alles, noch bevor ich den Mund aufmache. So alt. Das älteste Lied in dem ganzen elenden Gesangbuch.« Selbst ihre Worte klangen alt. Ich musste mich anstrengen, damit ich verstand, was sie sagte. »Egal was man mit seinem Leben anfängt, dieses Land macht ein Klischee aus einem. Reduziert jeden von uns auf seine Rasse.«
    Der kleine Robert begann zu schreien. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Seit zwanzig Jahren hatte ich kein Baby mehr auf dem Schoß gehabt. Ich ließ ihn hüpfen, in einem punktierten Rhythmus, und das schien er zu mögen. Ich summte, lange, tiefe Noten, ein Generalbass. Staunend legte mein Neffe mir die Hand auf die Brust. Er spürte das Vibrieren, und aus dem Weinen wurde ein verblüfftes Lachen. Der Ton riss Ruth aus ihrem Brüten. Sie stand auf und ging auf und ab, hin und her immer um das Bett. Der kleine Robert quietschte, hielt mir die Hand an die Brust, wollte mehr.
    »Der Witz an der Sache ist, dass sie ihn nicht erschossen haben, Joey. Wenn sie ihn erschossen hätten, hätte es vielleicht einen Aufstand gegeben, sogar in Oakland. Sie taten genau das, was sie in Jahren der Ausbildung gelernt hatten. Sie zielten mit Gummigeschossen auf die Beine und zertrümmerten ihm tatsächlich die rechte Kniescheibe. Streckten ihn auf dem Bürgersteig nieder, und er lag da und schrie vor Schmerz. Als der Schock nachließ, brüllte er sie an, hielt ihnen die ganze amerika-nische Geschichte vor. Sie hätten ihm wahrscheinlich gern eine echte Kugel in den Schädel gejagt, einfach nur dafür, dass er die Dinge beim Namen nannte. Die Sanitäter kamen. Zweiundzwanzigeinhalb Minuten nach dem Anruf. Sie brachten ihn auf den Operationstisch und schnitten ihm das Knie auf. Im Autopsiebericht heißt es, er sei an Komplikationen bei der Narkose gestorben.«
    Sie verstummte und nahm mir den kleinen Robert wieder ab. Er weinte, streckte die Arme nach meiner Brust aus. Er wäre mit einem Hechtsprung in meine Arme gekommen, nur damit er noch einmal das Brummen spüren konnte. Erst als Ruth selbst ebenfalls summte, beruhigte er sich. Ich lauschte diesen Tönen. Unausgebildet, ein wenig heiser. Aber so mächtig wie der Ozean in einer Vollmondnacht.
    »Der Mann ist an keinen Komplikationen gestorben, Joey. Im Gegenteil, er ist an Vereinfachung gestorben. Abstrahiert bis zum Nichts.« Das letzte Wort war kaum zu hören, nur noch ein Hauch. »Es gab ein Verfahren, aber keinen Prozess. Der eine wurde für zwei Wochen vom Dienst suspendiert, der andere für drei. Keinerlei Verschulden nachzuweisen. Angemessene Reaktion in einer äußerst prekären Lage. Was so viel heißt wie mitten im Krieg. Das weiß jeder. Wenn ein Nigger mit dem Gesetz in Konflikt kommt und die Hand in die Tasche steckt ...«
    Ihre Stimme verlor auch das letzte bisschen Resonanz. Hätte jemand ihr eine Waffe in die Hand gedrückt, hätte sie auf die Straße gehen und abdrücken können, ohne Ziel, ohne Bedenken. Ruth wanderte, ihr Kind im Arm, wie benommen durch das Zimmer unseres toten Onkels, summte dem Jungen etwas vor, als er es von ihr forderte.
    »Das weiß doch jeder. Das älteste Lied, der älteste Tanz. Wir hören ihn überhaupt nicht mehr, so tief steckt er in uns drin. Verstehst du, es war gar kein Lynchmord. Nur Notwehr. Kein Verbrechen; nur ein Unfall. Kein Rassismus; nur eine bedauerliche Überreaktion auf der Grundlage der Informationen, die ... Erzähl mir mal eine neue Geschichte, Joey. Keine, die aus jedem von uns einen ... Einer von den Bullen hat mir einen tränentriefenden Entschuldigungsbrief geschickt, per Einschreiben.«                                                                             
    »Welcher?«
    »Spielt das eine Rolle? Der Weiße. Aber spielt es eine Rolle? Nichts ... nichts von alldem wäre geschehen, wenn ...« Wenn dies nicht diese Welt wäre. »Was willst du sonst noch wissen, Joey? Was soll ich dir noch erzählen?« Sie hielt inne in ihrem rastlosen Auf und Ab und sah mich an,

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