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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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solange Leute so blöd sind und das tun, profitiere ich gerne davon.« Sie sah unseren Großvater an, der langsam den Kopf schüttelte, ein Ausdruck endgültiger Resignation. »Wieso? Kannst du nicht rechnen?«
    »Vergiss es. Sobald sie sehen, worauf es hinausläuft, heben sie die Regel auf.«
    Ein Laut wie Donnerhall brach los, wie zur Bestätigung dieses Satzes. Mein Neffe Kwame erschien auf der Treppe, eine silbernen Kiste in der Hand, zwei über Drähte damit verbundene Schaumstoffkissen auf den Ohren. Pulsierende Schallwellen gingen von ihm aus, ein Stakkato von Synkopen, die ich keinem Tonsystem zuordnen konnte. Durch das Ge–wummer war ein rhythmischer Hassgesang zu hören. Das Pulsieren war so stark, dass es die Luft erbeben ließ. Ich war entsetzt bei dem Gedanken, wie es sich im Inneren seines Kopfes anfühlen musste.
    Mit Zeichen gab Opapa seinem Urenkel zu verstehen, dass er den Kopfhörer abnehmen und das Band anhalten solle. Der Junge gehorchte, unter wütendem Knurren, das kein Erwachsener deuten konnte. Der Doktor erhob sich wie ein Prophet aus dem Alten Testament. »Wenn du dir das Gehirn durchschütteln willst, dann geh und schlag mit dem Kopf an die Wand.«
    »Mann, Alter, diss mich nicht«, antwortete Kwame. »Die Musik ist mega.«
    »Nennst du das etwa Musik? Das hat ja nicht einmal eine Melodie. Nicht mal die Wilden im Urwald machen so was.«
    »Ach, Opapa. Das haben wir doch schon so oft durchgekaut. Das ist unser Sound. Das Beste, was wir je für unser Seelenheil getan haben. Der direkte Nachfolger der alten Dirty Dozens; da wurde auch geschimpft, was das Zeug hielt.«
    »Was weißt du schon von den Dozens?« Ruth wurde bleich vor Wut, und der alte Herr tätschelte ihr den Arm. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich weiß. Du hast es am selben Ort gelernt wie ich. Von irgendeinem Propheten, der um jeden Preis unser Erbe bewahren will.«
    Ruth stöhnte auf. »Mach dir mal keine Gedanken um unser Erbe! Jeder weiße Junge möchte ein Stück davon abhaben, auf allen fünf Kontinenten.«
    »Das sind doch alles Loser«, skandierte Kwame. »Mit ihrem Ghetto-blaster. Bleichgesicht peilt das nicht, unsern Sound, den rafft der nicht.«
    Er nickte im Rhythmus mit dem Kopf, wiegte sich stolz hin und her. Sein kleiner Bruder kicherte und streckte die Hand nach ihm aus. Kwame verschwand wieder unter seinem Kopfhörer, unerreichbar für uns. Ruth, ganz mit Babybrei beschmiert, legte den Arm um unseren makellosen Großvater. Er wehrte sich nicht. »Du bist schlimmer als mein eigener Vater. Der hat auch immer an meiner Musik rumgemäkelt. Ich habe mir geschworen, dass ich das niemals tun würde, wenn ich mal eigene Kinder hätte.«
    »Ehrlich?«, fragte ich ungläubig. »Er hat dir Vorhaltungen wegen Musik gemacht?«
    Sie stöhnte, als hätte sie Prügel bezogen. »Am laufenden Band. James Brown. Aretha. Alles, was mir etwas bedeutete. Alles, was auch nur halbwegs Soul hatte. Er wollte, dass ich werde wie ihr. Wie er. Was meinst du, Joey, warum hassen die Leute eure Musik so sehr?«
    Aus dem gleichen Grunde, aus dem sie sie einmal geliebt hatten – weil sie einfach nur sie selbst ist, nicht an einen Zweck gebunden. Auch unser Großvater stöhnte, ein leises altes Gospel- subito , erinnerte sich an alte Urteile, missbrauchtes Vertrauen, Bündnisse, die an zu viel Treue starben. Er sah seinen eigenen Grabstein vor sich und las darauf, in Granit gemeißelt, die Dinge, die er seiner Tochter gesagt hatte. Er fasste Ruth beim Handgelenk und betrachtete sie mit einem verzweifelten Blick. »Was ist denn nur an der Musik, dass jeder sich ihretwegen das Leben ruinieren will?«
     
    »Wann ist er gestorben?«, fragte Ruth später am Tag.
    Einen verrückten Augenblick lang dachte ich, wir hätten die Rollen getauscht. »Er? Nicht lange nach deinem Besuch bei mir. Ich habe mir ewig den Kopf zerbrochen, wie ich dich verständigen könnte.«
    »Darauf, hier zu fragen, bist du nicht gekommen.« Es war eine einfache Feststellung, und sie half mir, den Anschluss an Ruths Vergangenheit zu finden. Sie weinte ein paar stille, verirrte Tränen, kein Trost darin. Sie weinte für sich allein, und es machte ihr nichts aus, dass ich es hörte. Sie hatte so viele zu betrauern. Es dauerte lange, bis sie wieder sprach. »Der alte Bastard. Meinst du, er hat wirklich nie begriffen, was er uns angetan hat?«
    Ich fühlte mich nicht berufen, meinen Vater zu verteidigen. Ich hätte mich nicht einmal selbst verteidigen können.
    »Woran ist er

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