Der Klang der Zeit
bestaunten: das Wunderkind, der bunte Hund. Wenigstens einen kurzen Blick mussten alle auf mich geworfen haben. Aber in einer Familie von dieser Größe bleibt keine Neuigkeit lange interes-sant. Alle umschwärmten mich, hörten sich das wenige an, was ich zu erzählen hatte, und dann widmeten sie sich wieder Dr. William, dem Patriarchen, oder dem kleinen Robert, dem Benjamin des Clans.
Ruth und Robert waren schon seit Jahren hier ein und aus gegangen; gleich nach ihrem Besuch bei mir in Atlantic City waren sie auf ihrer Suche nach einer Zuflucht hier gelandet. »Es war kinderleicht, Joey. Du hättest es jederzeit auch tun können.«
Die Daleys hatten eine beschwingte Art, die gute Laune von Leuten in einem Bombenkeller, denen die improvisierte Fröhlichkeit die Furcht vertreibt. Wenn drei oder mehr von ihnen zusammen waren, wurde immer musiziert. Sobald eine kritische Masse erreicht war, begannen alle zu singen. Auf das erste Chaos folgten Verhandlungen – He, das ist meine Melodie! Was soll das heißen, seit wann gehört jemandem eine Melodie? Das habe ich schon gesungen, bevor du überhaupt auf der Welt warst –, aber schließlich fand der Daley-Tabernakelchor stets seine unverwechselbare fünfeinhalbstimmige Harmonie.
Ich sang mit, wo ich einen Platz für mich fand, sang Seat oder Nonsenssilben, wenn ich die Texte nicht kannte. Mein Alte–Musik–Bass fügte sich gut in das Ensemble der vollen Stimmen ein, so gut, dass mich überhaupt niemand bemerkte. Es gab keine herausragenden Stimmen, aber es gab auch niemanden, der nur so tat als ob. Sie bestanden darauf, dass selbst Dr. Daley den einen oder anderen Refrain sang, mit einem Brummen, das neun Jahrzehnte Leben auf der Schulter hatte. Keiner durfte nur Zuhörer sein; jeder musste seinen Beitrag leisten, und jeder diente Gott auf seine Weise.
Michael holte Charles' altes Tenorsaxophon hervor, und der Geist seines Bruders lebte fort in jedem Klacken der Klappen. Lucilles ältester Sohn William spielte Bassgitarre so geschmeidig wie eine Laute. Fast jeder konnte auf dem Klavier im Wohnzimmer klimpern, vier-, sechs-, manchmal achthändig. Das kannst du glauben. Von irgendwo müsst ihr es doch haben, oder? Ich konnte froh sein, wenn ich eine der inneren Melo-dielinien hinbekam, und ich brauchte alle zehn Finger zum Mithalten. Keiner erwartete ein Solo von mir, oder jedenfalls nicht mehr Soli als von allen anderen.
Das alte Klavier war ein Minenfeld. Ein halbes Dutzend Tasten, darunter das mittlere C, schnarrten oder schepperten nur noch oder klemm-ten einfach. »Das gehört zum Spiel«, erklärte Michael. »Du musst Musik machen, ohne dass du in die Schlaglöcher fällst.« Mitten in einem großen improvisierten Chorus hielt ich inne und begriff, was das für Tasten waren, auf denen ich spielte. Es waren die Tasten, auf denen meine Mutter spielen gelernt hatte.
Solange das Haus voll mit singenden Verwandten war, wirkte Ruth so friedlich, wie ich sie seit Mamas Tod nicht mehr gesehen hatte. An diesem Abend, meinem ersten musikalischen Familienfest im Hause Daley, saß sie auf dem Sofa, im Arm einen widerspenstigen Sohn, ein friedlich schlafendes Baby auf dem Kissen, und ihr ermordeter Mann saß neben ihr. Endlich in Sicherheit, sang sie, und als ich sie hörte, hätte ich am liebsten das Singen für alle Zeit aufgegeben. Ich ging zu ihr,
stellte mich neben sie. Sie schlug die Augen auf und lächelte mich an. »Deswegen sind wir zurückgekommen.«
»Du vielleicht«, sagte Kwame, der jedes einzelne Wort auch unter sei- nen Kopfhörern mitbekam.
»Wie lange seid ihr schon hier?«
»Jetzt, meinst du? Gleich, nachdem Robert ...« Sie sah sich um, dann legte sie den Kopf in die Hände, musste den Albtraum von neuem vertreiben. »Aber wie lange ist das?«
Meine Tanten Lucille und Lorene leiteten den Chor der Bethel-Ge-meinde, der Kirche, in der sie, ihre Eltern, ihre Kinder geheiratet hatten, in der meine Mutter getauft worden war und in der sie allesamt das Singen gelernt hatten. Beide hatten Jura studiert, doch zum Kummer ihres Vaters und zur Freude ihrer Mutter zogen sie die Kirche dem Gerichtssaal vor. Lucille spielte Orgel und Klavier, und Lorene dirigierte den Chor, der zum guten Teil aus den Kindern der beiden bestand. Am zweiten Sonntag nach meiner Ankunft beschloss Ruth, dass wir hingehen und sie uns anhören sollten. »Und zwar alle«, warnte sie Sohn, Großvater und
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