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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Bruder in einem.
    Dr. Daley protestierte am heftigsten. »Lasst mich in Frieden sterben, als gottlosen Heiden.«
    »Der Mann hat Recht«, sagte Kwame. »Geht den Frommen an den Kragen, Heiden auf die Barrikaden.«
    »Ich bin nicht für deine Mutter zur Kirche gegangen. Und auch nicht für deine Großmutter.«
    »Aber mir tust du den Gefallen«, sagte Ruth.
    »Geh du nur. Ich bleibe hier, mit dem jungen Mann hier, und wir plaudern ein wenig über Nietzsche und Jean-Paul Sartre.«
    Ich brachte es nicht übers Herz ihm zu sagen, dass dieser ungläubige Jude in den letzten fünf Jahren mehr katholische Messen gesungen hatte, als die meisten Gläubigen in ihrem ganzen Leben besuchen.
    Ich war nicht der Hellhäutigste in der Kirche. Nicht einmal auf unserer Seite des Ganges. Das Credo der Bethel-Gemeinde war, dass Farbe zwar mit zur Rechnung gehörte, dass sie aber nicht die einzige Variable in dieser Gleichung war. Ruth merkte, wie ich ein rothaariges Mädchen im Chor anstarrte, eine bleiche, präraffaelitische Schönheit. »Oh doch, Bru-der, sie ist schwarz.«
    »Woher willst du das wissen ?«
    »Schwarze spüren das.«
    »Du mich auch.«
    Meine Schwester unterdrückte ein Grinsen. »In der Kirche flucht man nicht, Joey. Warte bis nachher auf dem Parkplatz. Aber glaub mir, sie ist nicht nur schwarz, ihr seid sogar verwandt. Eine Cousine dritten Grades oder so.«
    Wie nicht anders zu erwarten, klang der Chor wie ein Familientreffen im Hause Daley. Doch erst als der Solopart kam, begriff ich, weshalb ich hier war. Das Lied war ein altbewährtes Schlachtross aus dem neun-zehnten Jahrhundert, »He Leadeth Me«, der Herr führet mich, und das Solo sang eine hübsche Frau mit einer kurzen Afrofrisur, etliche Jahre jünger als ich. Die erste Strophe war noch sehr schlicht, genau wie sie in dem alten methodistischen Gesangbuch steht. Aber die Solistin war so hinreißend, dass selbst Kwame, der auf jeder Ecke eines alten Gemeinde-blättchens die Graffiti übte, mit denen er bald Oakland verzieren würde, aufblickte, um zu sehen, woher diese Töne kamen.
    Bei der zweiten Strophe hielt es mich kaum noch auf meinem Platz. Das Mädchen hatte eine Stimme, die die Gletscher von Alaska zum Schmelzen bringen würde. Einen Ton, so rein und präzise, dass die NASA damit Satelliten hätte steuern können. Sie lehrte die fußkranke Melodie das Fliegen, wickelte sie um die ausgestreckten Finger, schleuderte sie zwischen den Beinen hindurch und ließ sie über dem Kopf kreisen. Jeder Ton in dem sprühenden musikalischen Wasserfall war wie ein funkelnder Kristall. Ich sah Ruth fragend an, aber die blickte nur stur vor sich hin und grinste, tat, als merke sie nichts.
    Die Stimme verlor alle Erdenschwere, streifte Hülle um Hülle ab, bis sie blendend hell erstrahlte. Und nach jeder Strophe setzte der Chor ein mit seinem Refrain, gleichmäßig wie ein Herzschlag: »He leadeth me. He leadeth me.« Dann die Überleitung zur nächsten Tonart: »He leadeth me.« Das solide Gospelfundament war für die Solistin wie ein Fels, von dem sie ihren frohlockenden Lobgesang aufsteigen lassen konnte. Sie drang vor bis in die Ionosphäre des Gehörs und schwebte dahin, mit strah-lenden Augen, getragen von der entrückten Demut höchsten Entzückens, so nah an der Erkenntnis der eigenen Tiefe, wie eine Seele überhaupt nur kommen kann. Ich konnte kaum glauben, dass sie diese Höhenflüge mit einer solchen Sicherheit improvisierte. Aber ebenso un-vorstellbar war, dass jemand diese lebendigen Gefühlswallungen vorab auf ein Notenblatt gebannt hatte.
    Welle um Welle rollte das Kirchenlied über uns hinweg. Hände reckten sich in die Höhe. Fassungslos, angesichts von so viel Schönheit. Ich blickte Dr. Daley an und hatte nur noch eine Frage: Wer? Er nickte feierlich. »Das ist Lorenes Mädel.« Ich konnte diese Frau nicht heiraten; sie war meine Cousine. »Das ist Delia.«
    Als ich den Namen hörte, sah ich wieder meine Schwester an. Auf dem langen Weg zu mir war ihr Lächeln fast ganz zerbrochen.
    »Unglaublich. Was für eine Stimme. Sie braucht eine Ausbildung, die besten Lehrer.«
    »Arschloch«, zischte meine Schwester mich an, gerade so laut, dass die Reihe vor uns es hörte. »Glaubst du vielleicht, sie kommt frisch aus dem Dschungel? Sie hat die besten Lehrer. Hörst du das nicht?«
    »Wo? Bei wem?«
    »Die reißen sich buchstäblich um sie. Am Curtis Institute.«
    Nach dem Gottesdienst warteten wir an der Kirchentür. Meine Cousine Delia entdeckte mich

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