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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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sofort. Ich war wohl nicht schwer zu erkennen. Ruth wollte uns bekannt machen, aber das Mädchen winkte ab. Sie starrte mich an. »Na du hast vielleicht Nerven.« Etliche Kirchgänger reckten die Hälse und wollten sehen, was los war. »Kommst hier hereinspaziert, als sei nichts geschehen. Aber so leicht kommst du mir nicht davon. Du wirst mir büßen für das, was du angerichtet hast.«
    In Gedanken ließ ich meine Sünden Revue passieren. Ich war bereit, jedes Geständnis zu unterzeichnen, jede Strafe anzunehmen. Ich spürte die Energie, die von dieser Frau ausstrahlte. Ruth und Dr. Daley standen rechts und links von mir, stumme Gerichtsdiener. Ich kannte mein Verbrechen. Und meine Familie hatte es lange vor mir gekannt. Ich konnte nur abwarten, bis das vernichtende Urteil gesprochen war.
    »Wer ist auf die Idee gekommen, den Bach so zu singen?«
    Es dauerte so lange wie ein halber Choral, bis ich die Erleichterung spürte. Und noch einmal eine halbe Phrase, ehe ich eine Antwort parat hatte. »Oh! Jeder hat seinen eigenen Bach.« Sie blickte nach wie vor finster drein, schüttelte ärgerlich den Kopf. »War er dir zu schlicht?« Keins unserer Sakrilege hatte man uns so oft vorgehalten wie das: die Besetzung jeder Stimme mit nur einem Sänger. Den Glauben, wir bekämen im Himmel eine Privataudienz.
    Meine Cousine funkelte mich an, eine glutvolle Carmen. »Du schuldest mir ein Auto.«
    »Ich ... ein Auto?« Fast hätte ich schon die Brieftasche gezückt.
    »Ich hatte eure kleinen Motetten beim Autofahren im Kassettendeck. Schnurstracks über die rote Ampel an der Ecke Sechzehnte und Arch. Wumm! Ich habe nicht mal gemerkt, dass ich auf der Kreuzung war, aber dann kam von der Seite ein Ford Escort und stutzte mir die Flügel. Schöne Eskorte zurück auf den Boden der Tatsachen. Singet dem Herrn ein neues Lied?«
    »Ja, so hieß sie.«
    »Und genau das habt ihr ja auch getan. Oh, ja! Das war eine tolle Platte!«
    Selbst die einfachsten Gedanken kamen nur mit Verzögerung. »Es hat dir gefallen? Du fandest es richtig?«
    »Es hat mich mein Auto gekostet. Ein hübscher kleiner Dodge Dart, und so ein schönes Rot.«
    Jeder außer einem Musiker würde sagen, dass Stille immer gleich klingt. Aber Ruths Schweigen auf dem Heimweg hatte einen ganz neuen Klang.
    Wenig später konnte ich Delia selbst Bach singen hören. Sie trat in mehreren Kirchen der Stadt als Solistin in der H-moll-Messe auf. Jonah hätte bei dem Gedanken an eine Besetzung dieser Stärke womöglich die Nase gerümpft, aber wenn er das gehört hätte, wäre selbst er bekehrt worden. Delias Laudamus te brachte die ganze Verzückung zum Ausdruck, die der Lateinisch schreibende Lutheraner in das Stück hineingelegt hatte. Jede gesungene Note war vollkommen, genau so wie der Meister sie geschrieben hatte. Trotzdem hatte ihr Gesang etwas Swingendes, Tanzendes, ein Ungestüm, als gebe es kein Morgen. Und das gibt es ja auch nicht. Niemals. Das betörende, überirdische Werk hatte seine Interpretin gefunden. Das ist das Lob Gottes, sagte Delias Stimme. Das ist Musik. Lasst euch ja nichts anderes erzählen.
    Zwei Abende später sang sie Villa-Lobos' Bachiana Brasileira Nr. 5. Das Werk war schon lange zur Karikatur seiner selbst geworden, genauso zuschanden gespielt und unhörbar geworden wie Wilson Harts geliebter Rodrigo, erstickt an lauter Liebe. Aber in Delia Banks' geschmeidiger, schwereloser Interpretation klang es für mich wieder wie am ersten Tag: Verzweifelt, mystisch, sinnlich, besessen, eine einzige endlose Sequenz, geboren aus einem langen Atemzug. Man könnte nicht einmal sagen, dass ich das Stück noch nie anständig gesungen gehört hatte. Ich hatte es überhaupt noch nie gehört. Ihre Interpretation stellte alle Aufnahmen in den Schatten, die ich je gehört hatte. Und doch würde sie nie aufgenom-men werden.
    Einmal aß ich mit ihr zu Mittag, nur wir beide, beinahe verstohlen, in demselben Lokal, in dem meine Mutter und meine Großmutter sich einst heimlich getroffen hatten. »Überall Gespenster«, sagte Delia. »Wir kön-nen von Glück sagen, dass sie nicht eifersüchtig sind.«
    Ich wusste nicht, was ich zu ihrer Musik sagen sollte. »Du könntest ... Such dir ein Leben aus, und du bekommst es.« Die Zeiten hatten sich geändert. Oder würden sich ändern müssen, allein um dieser Frau willen. »Du kannst in jedem Konzertsaal auftreten.« Ich kannte die Wi-derstände, aber trotzdem war ich mir sicher, dass ich nicht übertrieb. Ein Mensch konnte sein

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