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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ganzes Leben mit Musik verbringen und dennoch froh sein, wenn er auch nur ein einziges Mal eine solche Stimme zu hören bekam. Und ich hatte gleich zwei davon in meiner nächsten Ver-wandtschaft.
    Meine Cousine schenkte mir ihr schönstes Bühnenlächeln, das Lächeln, mit dem sie die Herzen ihrer Zuhörer eroberte, bevor sie den ersten Ton anstimmte. »Danke, Sir. Ein schönes Kompliment, gerade von einer verirrten Seele wie dir.«
    »Ich meine es ernst.«
    »Das weiß ich.« Die Kellnerin kam, und Delia schäkerte mit ihr. Als sie wieder fort war, sah meine Cousine mich an und schüttelte den Kopf. »Hast du auch mal in Salzburg gesungen?«
    »Mehrfach. Eine wunderschöne Stadt. Würde dir gefallen.«
    »Ich weiß. Ich hab' den Film gesehen. Den mit der singenden Nonne. Und auf dem Festival d'Art lyrique in Aix-en-Provence, habt ihr da mal gesungen?«
    »Wir haben sogar einen Preis gewonnen.« Doch als ich antwortete, ging mir auf, dass Delia es längst wusste.
    »Bist du glücklich?« Aber auch darauf kannte sie die Antwort schon. »Dann frag mich, ob ich glücklich bin. Frag mich, von was für einer Karriere ich träume. Ich habe alles, was ich auf dieser Welt brauche. Ich habe meine Kirche. Wer braucht eine größere Bühne als die? Ich habe Leute, die ich liebe und die mit mir singen, sie geben mir Halt, sie beflügeln mich. Jedes Stück, das wir singen, machen wir uns zu Eigen, ganz gleich, woher es ursprünglich kommt. Ich habe ein Repertoire, das mir für zwei Leben reicht. Ein kurzes und ein langes.«
    Ich versuchte es mit einer Kombination aus Taktik und moralischem Zeigefinger. »Du bist es ... der Quelle dieser Gabe schuldig, dass du dein Licht nicht unter den Scheffel stellst. Dass du mit diesem Gesang möglichst viele Menschen froh machst.«
    Über diese Worte dachte Delia nach. Sie quälten sie, eine Schlange in ihrem Garten. »Nein. Es geht nicht darum wie viele. Bist du glücklich? Du kannst niemanden glücklich machen, wenn du nicht selber glücklich bist.«
    Sie hatte meine Röntgenbilder aufgehängt, und was sie da im Licht der Lampe sah, gefiel ihr gar nicht. Ich musste zum Gegenangriff übergehen, bevor sie mich in die Enge trieb. »Fürchtest du dich?«
    Den Gedanken fand sie lustig. »Vor wem?«
    Ich hätte ihr eine ganze Liste aufschreiben können: all die Leute, die
    uns den Tod wünschten, nur weil wir mit dem einzigen Pass reisten, den wir hatten. Sie wusste, was sie riskierte – kannte die offensichtlichen und die unterschwelligen Gefahren –, selbst wenn sie nur am anderen Ende der Stadt sang. Dem aus dem Weg zu gehen war vielleicht keine Furcht. Womöglich war es sogar das Gegenteil. »Also einfach nur Lust und Laune?«
    »Oh, ich singe, was mir auf den Notenständer kommt.«
    »Aber nur geistliche Musik.«
    Delia spielte mit dem Salzstreuer. »Alle Musik ist geistliche Musik. Das Gute daran jedenfalls.« Und es war tatsächlich so: Selbst der schwüle, sinnliche portugiesische Sirenengesang hatte ein himmlisches Feuer ent-facht.
    »Ich habe gehört, was du aus dem deutschen Provinzkantor gemacht hast. Ich weiß, dass es nicht darum geht, wem was gehört.«
    »Doch, immer.« Und nachdem das gesagt war, konnte es nicht mehr anders sein. Keine Kultur, die nicht jemandem gehörte, kein Besitz ohne Unterdrückung.
    »Das heißt, du stellst dich gegen Europa?« Kranke, machtgierige Her-renmenschen, allzeit bestrebt den Engeln zu dienen.
    »Gegen Europa?« Delia rollte mit den Augen. »Unsinn. Auch wenn Eu-ropa mich mehr Autos gekostet hat, als wir heute hier zur Sprache bringen wollen. Wer gegen Europa ist, der muss zu viel von sich amputieren. In jedem Lied, das wir singen, gibt es weiße Noten. Aber das ist doch gerade das Schöne. Wir machen unser eigenes kleines Land auf, mit dem, was wir uns gegenseitig stehlen. Sie kommen her in unsere Einöde und holen sich alles, was wir haben. Und dann schleichen wir uns rüber in ihre Viertel, tief in der Nacht, und holen uns ein kleines Stückchen zurück, etwas, von dem sie noch nicht einmal gemerkt haben, dass sie es mitgenommen haben, etwas, das sie überhaupt nicht wiedererkennen würden! Auf die Weise haben alle etwas davon, und alles wird bunter.« Sie schüttelte den Kopf. Ein kleines, volltönendes Knurren kam aus ihrer Brust. »Nein. Antieuropäisch kann man nicht sein, wenn alles zum Teil europäisch ist. Aber proafrikanisch müssen wir sein, und das aus dem gleichen Grund.«
    Aber ihre Kirche liebte sie doch gewiss viel zu sehr, um

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