Der Klang der Zeit
sie für sich zu behalten. »Tausende könnten dich hören. Hunderttausende.«
»So viele wie deinen Bruder?« Sie bereute diese Worte schon im Augenblick, in dem sie sie aussprach.
»Du könntest den Menschen beibringen, die Dinge in einem ganz neuen Licht zu sehen.«
»Einem neuen Licht! Glaubst du denn immer noch an die heilende Kraft der Musik? Bach? Mozart? Die Nazis haben sie genauso gerne gehört. Musik hat noch niemanden geheilt. Sieh dir doch deine arme Schwester an. Sieh dir ihren Mann an. Und dann sag mir, welche Musik du dazu spielst. Hast du auch nur ein einziges Lied, das du jetzt singen könntest und das ihr helfen würde? Ein einziges Lied, das sie trösten könnte und das nicht vor Scham sterben würde, wenn es sie sieht?«
Es war noch nicht zu spät für mich, ein Handwerk zu erlernen. Auf ehrliche Weise mein Brot zu verdienen. Schreibmaschine schreiben konnte ich recht gut. Ich konnte Archivar in einer Anwaltskanzlei werden. Ich atmete tief durch, warf einen Blick zurück auf meine längst vergangenen Tage als Bassist der Voces Antiquae. »Ein Lied kann immer nur so gut sein wie sein Zuhörer.«
»Der Zuhörer ist deine Schwester. Ein Lied für sie.«
Ich überlegte, ob ich eine Meinung dazu hatte. »Vielleicht singen wir für uns selbst.«
»Das ist das Mindeste. Ohne das geht es nicht. Aber wenn es nur das ist, dann ist es nichts wert. Wir brauchen eine Musik, die jeden anspricht. Die jeden mitsingen lässt. Nichts für ein Publikum!«
»Popsender im Radio.«
»Geschenkt.«
»Gospel, ist das Musik für alle?« Ich hatte noch eine Liste für sie auf Lager, wenn sie es so haben wollte.
»Für jeden, der Ohren hat.«
»Das ist es doch gerade. Unsere Ohren hören nur das, was sie irgendwann kennen gelernt haben.«
»Oh, die Leute erkennen schon, was gut ist. Jede gute Musik erzählt von dem, was uns widerfahren ist. Gibt es denn jemanden auf der Welt, dem mehr widerfahren ist als uns?«
»Uns?«
»Ja, uns.«
Mit diesen Worten stoppte sie die, die mir schon auf der Zunge lagen. Das Einzige, was ich darauf noch antworten konnte, war das, wofür ich mich am meisten schämte. »Ich sehne mich danach. Ich will hören, wie ...« Alle die missbrauchten, diskreditierten, kompromittierten alten Schlachtrösser. Sie konnte sie erlösen. Nur eine schwarze Stimme war dazu fähig. »Ich möchte, dass diese Musik ... erlöst wird.« Wollte hören, dass diese Musik endlich das war, was sie immer nur vorgespiegelt hatte.
Einen Moment lang strahlte Delia bei diesem Gedanken. Aber ich war der Teufel, der sie dazu verführen wollte, Steine in Brot zu verwandeln. »Du verstehst das einfach nicht. Ich habe meine Kirche. Meinen Jesus.«
»Ist der nicht auch Europäer?«
Sie grinste. »Unserer kommt von weiter aus dem Süden. Schau. Ich habe meine Arbeit. Unsere Arbeit. Hörst du, wie großartig das klingt? Ich mache dir ja keine Vorwürfe, dass du lebst, wie du es für richtig hältst. Du bist in einer Zeit groß geworden, als wir noch dachten, wir könnten das, was sie haben, nur bekommen, wenn wir ihnen alles nachmachten. Aber wir sind wir und werden niemals sein wie die Weißen, und was ist daran schlimm ? Wir sind genauso stark wie sie – sogar stärker, wenn man mal alles zusammennimmt. Warum steckst du so viel Arbeit in etwas, das du nicht retten kannst und das gar nicht gerettet werden will?«
Aus dem gleichen Grunde, aus dem wir überhaupt singen. Ich sah mich im Restaurant um. Jeder nur erdenkliche Farbton. Keiner kümmerte sich groß darum, dass ich dabei war, keiner kümmerte sich um mein Unglück. Ich sah meine Cousine an. Der durchschnittliche Hautton dieses Landes musste irgendwo in der Mitte zwischen uns beiden liegen. »Das hieße also ›separate but equal ‹ . Nicht gleich, aber gleichberechtigt?«
»Genau das. Was ist denn daran so schwer? Zwei Kulturen, ein Recht.«
»Gleichberechtigung mit der herrschenden Kultur?«
»Sie beherrschen nur die, die sich beherrschen lassen.«
»Ich dachte, es dreht sich alles darum, dass es niemals Gleichheit –«
»Das hat sich geändert. Jetzt haben wir die Wahl.«
Aber wenn es unmöglich war – unmöglich, eine Musik außerhalb von uns selbst zu suchen, unmöglich, die Tonart zu finden, eine Melodie, die über diese Zeit und über diesen Ort hinaus Bestand hatte ... Ich wollte mehr als dieses imaginäre Jetzt, diesen künstlichen Unterschied, mehr als den argwöhnisch beäugten Waffenstillstand, der so tat, als sei
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