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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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er der Frieden, nach dem wir uns immer gesehnt hatten. Ich mühte mich nach Kräften. Ich drehte und wendete ihre Worte häufiger, als es Richtungen zum Drehen gab. »Das hieße, man kann nur singen, was man ist?«
    Der Kaffee kam. Als die Kellnerin wieder ging, hatten sie über Kochrezepte geplaudert, sich gegenseitig ihr Leid über ihre Boyfriends geklagt und Telefonnummern ausgetauscht. Dann waren wir zwei wieder allein. Delia legte die Hände um den heißen Kaffeebecher, ein Bild woh-ligen Vergnügens. »Wo waren wir? Nein, im Gegenteil. Ich denke, es heißt eher: Man kann nur sein, was man auch singt.«
    »Meine Schwester hätte Sängerin werden können. Mit ihrer Stimme hätte sie jeden erobert.«
    »Joseph Strom!« Mit einem Ruck blickte ich auf. Einen Moment lang war sie meine Mutter, die einen neunjährigen Jungen zurechtweist. Meine Cousine hatte Tränen in den Augen. Sie schüttelte den Kopf, entsetzt über meine Worte. »Hör ihr doch einmal zu. Nur ein einziges Mal.«
    Das tat ich. Früher oder später wäre ich auch selbst darauf gekommen. Ich begleitete Ruth auf einem ihrer Abendspaziergänge durch das Viertel. Unser Onkel und unsere Tanten erklärten sie für verrückt; sie spiele mit ihrem Leben. Nicht einmal mit hochgekurbelten Autofenstern fuhren sie gern durch diese Straßen. Opapa brachten die Ausflüge in Rage. Aber sie winkte nur ab. »Da draußen bin ich sicherer, als wenn ich vor dem Rathaus stünde. Dem schlimmsten Junkie würde ich mein Leben eher anvertrauen als einem Polizeibeamten dieses Landes.«
    Überall saßen Menschen auf den Veranden, sie lebten im Freien, wie ich es aus Gent gewohnt war, wie man es in Amerika aber nur noch bei den Ärmsten der Armen sah. Meine Schwester grüßte jeden, an dem wir vorüberkamen, manche sogar mit Namen. »Ich male mir gern aus, wie unsere Großeltern hier spazieren gegangen sind, als sie noch jung waren.«
    »Denkst du eigentlich auch manchmal an Pas Eltern, Ruth? Ich will mich nicht streiten. Ich möchte nur ... Ich frage mich ...«
    Sie hob beschwichtigend die Hand und nickte. »Ich habe es versucht. Ich kann nicht einmal ... Ich bin geradezu süchtig nach den Berichten von Überlebenden. Ich sehe mir jede Fernsehdokumentation über den Holocaust an. Man müsste tot sein, damit das Gedächtnis dafür ausreicht. Du fragst, woran ich denke, wenn ich an unsere ... anderen Groß-eltern denke ? Dass die Herrenmenschen sie genauso gekriegt haben wie uns.«
    »Obwohl sie weiß waren.«
    »Sie waren nicht weiß. Sie gehörten nicht einmal zur selben Spezies. Nicht zu denen, die die Öfen angeheizt haben. Und wir wurden gleich mitverbrannt, die paar, die es von uns gab.«
    Sie hörte den Vorwurf und nickte. »Das andere ›Wir‹, meine ich.« Man musste schon tot sein, um ein solches Erbe zu überleben. Wir gingen an einer Zeile hundertjähriger Häuser entlang, die jetzt zimmerweise ver-mietet wurden. Ruth summte leise vor sich hin, aber die Melodie erkannte ich nicht. Als wieder Worte kamen, war es, als spräche sie zu jemandem auf der anderen Seite der Straße. »Es ist ganz einfach, Joey. Die einfachste Frage überhaupt. Wenn sie kommen und uns zusam-mentreiben, in welche Abteilung kommst du dann?«
    »Keine Frage. Keine Wahl.«
    »Aber sie haben uns schon zusammengetrieben, Joey.« Sie breitete die Arme aus, wies auf das ganze Viertel. »In dieser Minute treiben sie uns zusammen. Sie werden uns verfolgen, solange es einen Kalender gibt.«
    Ich versuchte mir das vorzustellen. Aber ihre nächste Bemerkung schleuderte mich aus Pas Weltall auf die Erde zurück.
    »Du hättest diese Weiße heiraten sollen, Joey. Ich bin sicher, sie war ein anständiges Mädchen.«
    »Ist. Sie ist immer noch ein anständiges Mädel. Aber ich nicht. Ich bin nicht anständig.«
    »Unvereinbar?« Ich sah sie an. Um ihren Mund lag etwas wie Anteilnahme.
    »Unvereinbar.«
    »Zwei Menschen eben.«
    Ich wartete. Dann begriff ich, dass das schon der ganze Satz war. »Zwei Menschen. Genau das.«
    »Mama und Pa hätten sich scheiden lassen müssen. Wenn sie am Leben geblieben wäre.«
    »Meinst du?« Was wir jetzt über sie erzählten, konnte den beiden nicht mehr wehtun.
    »Natürlich. Sieh dir doch die Statistik an.«
    »Die Zahlen lügen nie«, sagte ich mit dem deutschen Akzent unserer Kindertage.
    Sie zuckte zusammen und musste doch lächeln. Eine robuste Kreuzung. »Robert und ich waren auch unvereinbar. Und es war trotzdem gut.«
    »Was ist mit seinen Eltern?«
    Ruth blickte

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