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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Brüder?«
    Ruth umklammerte meinen Arm wie eine Schraubzwinge. »Du hast doch keine Ahnung, Joey. Du begreifst nicht das Geringste.« Sie spürte, wie ich zusammenzuckte, und packte noch fester zu. »Nein, so meine ich das nicht. Ich meine, was hier passiert ist, seit ihr euch abgesetzt habt. Das ganze Land ist vor die Hunde gegangen. Permanenter Belagerungszustand. Wie soll denn ein Junge, ein kleiner Junge hier leben?« Ich spürte, wie ihr Schaudern sich auf mich übertrug. Nie im Leben würde ich mich wieder in Sicherheit fühlen. »Ist dir an ihm denn nichts aufgefallen? Ist es dir wirklich nicht aufgefallen?«
    »Kwame? Nein. Na ja, er ... zieht sich wie ein Verbrecher an.«
    Sie lachte schallend, aber ich spürte den Schmerz. »Das tun doch alle
    Kinder. Und die Hälfte der Erwachsenen obendrein.«                       
    »Er hasst Polizisten, das ist mir auch noch aufgefallen.«                
    »Gesunder Menschenverstand. Überlebenstraining.«                     
    Wir standen noch immer vor dem Haus unseres Großvaters. Ich sah ihn am Fenster, wie er eine Gardine zurückzog und zu uns hinaussah.
    Dr. Daley, praktischer Arzt: Bedroht von dem Viertel, dessen guter Geist er einmal gewesen war. Mit heftigen Bewegungen gab er uns Zeichen, wir sollten hineinkommen. Ruth nickte und hob einen Finger in die Höhe, bat sich noch eine Minute aus. Da er keine unmittelbare Gefahr sah, ließ er den Vorhang sinken und zog sich zurück.
    Ruth kam noch näher heran. »Kwame ist anders als Robert. Sicher, er hat Roberts ungebrochenen Kampfgeist. Aber Robert hatte immer einen Plan, ein Gegenmittel. Er arbeitete immer an einer Antwort. Die nächste Aufklärungskampagne, die nächste Demonstration. Kwame hat die Wut, aber nicht eine einzige Antwort. Robert hat ihn auf Kurs gehalten. ›Wenn du so richtig wütend bist‹, sagte er immer, ›dann musst du versuchen anders zu sein als sie, so anders, wie du nur irgend kannst.‹ Wenn er durchdreht, tue ich, was Robert immer getan hat. Ich gebe ihm ein Blatt Papier und Buntstifte. Oder ich setze ihn vor einen Malkasten. Kwame kann – ach, die unglaublichsten Sachen. Aber seit ... Die letzten Male, die ich versucht habe, ihn hinzusetzen ...«
    Jetzt erschien der Junge selbst am Fenster und beobachtete uns. Durch die Glasscheibe, selbst durch die Kopfhörer mit ihrem hämmernden Puls, hörte er, wie wir über ihn redeten. Wut und Gleichgültigkeit lieferten sich eine erbitterte Schlacht auf seinem Gesicht. Meine Schwes-ter blickte hinüber zu ihrem Sohn, lächelte ihn trotz aller Panik an. Aber wer kann sich vor einem Kind verstellen, das schon den Tod gesehen hat? Sie drehte sich zu mir um und packte mich am Hemd, knapp unterhalb des Kragens. »Um wie viel Geld geht es, Joey? Mein Anteil an dem ... was übrig geblieben ist?«
    Ich hatte Ruths Drittel des Erbes in sicheren Papieren angelegt, und Zins und Zinseszins sammelten sich schon länger an, als ihr Sohn auf der Welt war. Es wog zwar die Erfahrungen dieses Jungen nicht auf, aber es war eine erkleckliche Summe. Ich nannte ihr einen ungefähren Betrag. Sie ergänzte ihn durch ihre eigene skeptische Überschlagsrechnung. »Wir haben auch etwas gespart, Robert und ich. Und Opapa bietet es mir immer wieder an – das, was Mama nie von ihm bekommen hat. Wir bekämen auch Unterstützung. Es gibt Quellen – nicht viele, aber es gibt Institutionen, die uns helfen. Das wäre es, was Robert gewollt hätte. Sein letzter großer Plan, bevor er... Er hat so hart daran gearbeitet, ich sehe alles genau vor mir.«
    Ich traute mich nicht zu fragen, wovon sie sprach. Sie setzte sich wieder in Bewegung und zog mich zur Tür. »Joseph Strom. Wie fändest du es, wenn du deinem Neffen Musikunterricht gäbest?«
    Ich sträubte mich, aber ich spürte, wie fest sie mich im Griff hatte.
    »Ruth. Mach keine Witze. Wie könnte ich ... Er würde mich mit Haut und Haaren auffressen.«
    Sie lachte und schüttelte den Kopf, zerrte mich zur Tür. »Ach, Kwame ist doch harmlos, Junge. Warte mal, bis du ein ganzes Klassenzimmer voller Zehnjähriger hast! Warte mal, bis der kleine Robert so weit ist.«
     
    Und so ging ich also mit meiner Schwester und ihren zwei Söhnen nach Oakland. Es war kinderleicht. Als Ruth mir Roberts Schule beschrieb, wusste ich, dass ich nur nach einem Grund gesucht hatte, nicht mehr nach Europa zurückzukehren. Und hier hatte ich nun etwas, das groß genug war als

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