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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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mich an, sah Gespenster. »Hast du das nicht gewusst? Dein eigener Schwager?« Aber mit dem Vorwurf nahm sie auch die Schuld auf sich. »Habe ich dir das nie erzählt? Aber wann hätte ich das auch tun sollen? Robert ist bei Pflegeeltern groß geworden. Weißen. Leuten, die nur auf das Geld aus waren.«
    Wir gingen zwei Blocks weit. Zweimal wurden wir angebettelt; der Erste musste ein versetztes Auto auslösen, damit er seine Frau ins Kran-kenhaus fahren konnte, der Zweite brauchte etwas zur Überbrückung, bis ein Missverständnis bei der Bank geklärt war. Bei beiden brachte meine Schwester mich dazu, dass ich ihnen fünf Dollar gab.
    »Die versaufen es nur«, sagte ich. »Oder kaufen Stoff damit.«
    »Ach ja? Und was hättest du Großes für die Menschheit damit getan?«
    Jedes dritte Grundstück war ein Elefantenfriedhof aus Einkaufswagen, Waschmaschinen und ausgeschlachteten Chevrolets, deren letzte Straße vier Hohlblocksteine waren. Ein Grüppchen Kinder in Kwames Alter spielte auf einem Trümmergrundstück Basketball, dribbelte zwischen großen Glasscherben, manövrierte geschickt um alte Ölfässer herum und warf den Ball in einen Korb, der anscheinend aus einer alten Fernseh-antenne gebastelt war. Jeder Zentimeter Beton war mit Graffiti besprüht, kunstvolle Signaturen von denen, die ihre Unterschrift auf nichts an-deres setzen durften. Die Armut war in diesem Viertel so groß, nicht einmal meine Schwester konnte sich damit identifizieren. Die Hochöfen des Fortschritts waren angeheizt und verschlangen alles, was sie an Brennstoff fanden.
    Die Welt, in der mein Bruder und ich hatten leben sollen, war tot. Ich konnte sie nicht begreifen, diese achtziger Jahre. Der Sturz nach dem Aufschwung war so tief, dass die Menschheit weit hinter dem Punkt gelandet war, an dem sie zum Sprung angesetzt hatte, weit hinter aller Hoffnung.
    Meine Jahre in Europa hatten mir die Augen geöffnet für das Land, das in meinem Pass stand. Drei Monate zuvor war ich mit den Voces auf Konzertreise an der Adria gewesen und hatte lateinische Verse gesungen, die vor Jahrhunderten ein Mönch aufgeschrieben hatte: »Lehre mich lieben, was ich nie kennen kann, lehre mich kennen, was ich nie sein kann.« Und nun ging ich mit meiner Schwester durch die Ruinen von Philadelphia, wollte sein, was ich nicht wissen konnte, wollte wissen, was ich nicht lieben konnte. Jedes Lied, das die Ohren verschloss vor diesem Massaker, war eine Lüge.
    Meine Schwester sah diese Landschaft mit ganz anderen Augen. »Wir müssen die Kontrolle über unsere eigenen Viertel übernehmen. Nicht dass es viel helfen würde. Aber es wäre ein Anfang.«
    Immer wieder ein neuer Anfang. Und danach ein weiterer. »Ruth?« Alles Elend, das ich hier sah, konnte ich ertragen, aber nicht das meiner Schwester. »Wie lange willst du noch hier bleiben?«
    »Du denkst immer noch wie ein Weißer, stimmt's?« Ich sah sie an, spürte, wie mein Körper sich spannte. Aber dann fasste sie mich am Arm und hakte sich bei mir unter. »Weißt du was? Mein Oakland, das sieht genauso aus wie hier.«                                                              
    »Dann könntest du doch einfach herziehen.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das könnte ich nicht, Joey. Da drüben, da steckt seine ganze Arbeit drin. Da drüben ist er ... gestorben.« Wir gingen schweigend weiter, bis wir um die letzte Straßenecke bogen und Opapas Haus wieder in Sicht kam. Ruth blieb stehen und schluchzte: »Was soll ich nur machen, Joey? Ein Zehnjähriger auf dem Weg in die Hölle und ein zweiter, gerade mal ein halbes Jahr alt, und der Vater ermordet.«
    »Wie meinst du das? Ist Kwame in Schwierigkeiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist und bleibst ein klassischer Musiker, was, Joey? Ein schwarzer Junge in Schwierigkeiten. Wer hätte das gedacht?« Ich löste mich von ihr, und in einer heftigen Bewegung riss sie die Arme in die Luft. Dann ließ sie sie wie einen Ascheregen sinken und hielt sich die Hände vors Gesicht. »Das kann ich nicht. Ich kann es nicht. Das schaffe ich nie.«
    Mein erster Gedanke war, das muss ich gestehen, schaffen wohin? Aber dann begriff ich und legte ihr beide Hände auf die Schultern. Sie schüttelte sie ab. So schnell wie ihre Tränen gekommen waren, versiegten sie auch wieder. »Schon gut. Schon gut. Keine Krise. Nur eine von diesen allein erziehenden Müttern. Davon gibt es Millionen.« »Wie viele von euch haben

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