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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Schutzwall gegen die Trümmer der Vergangenheit. Nichts anderes hatte Anspruch auf mein Leben. Ich musste es nur noch Jonah beibringen.
    Kurz vor unserem Aufbruch riefen wir ihn von Philadelphia aus an. Ich musste es ein paar Mal versuchen, bis ich ihn zu Hause in Gent antraf. Als er meine Stimme hörte, tat er, als säße er schon seit Wochen neben dem Telefon und wartete. »Verdammt noch mal, Muli. Du lässt mich am ausgestreckten Arm verhungern. Was ist los?«
    »Warum hast du nicht einfach angerufen, wenn du von uns hören wolltest?«
    »Das würde ich nicht gerade ›von euch hören‹ nennen, oder?«
    »Ich gehe nach Kalifornien. Ruth baut eine Schule auf.«               
    »Und du wirst da ...«                                                                    
    »Blödmann. Ich unterrichte.«
    Er überlegte einen Moment lang, bevor er etwas sagte. Vielleicht war es auch die transatlantische Verzögerung. »Du lässt uns also im Stich. Es ist dir egal, was aus Voces Antiquae wird.« Die Alte-Musik-Welle war in vollem Schwange, täglich kamen großartige neue, vibratofreie Stimmen hinzu. Ich war immer das schwache Glied in der Kette gewesen, der Amateur, der Benjamin. Jetzt hatte mein Bruder eine Chance, mich durch einen echten Bass zu ersetzen, eine ausgebildete Stimme, jemanden, der den anderen gerecht wurde und ihnen auf jene letzte Stufe des inter-nationalen Ruhms helfen konnte, die uns bisher versagt geblieben war. Den Verlust meiner Stimme musste er nicht betrauern. Er musste mir nur zu verstehen geben, wie schmählich ich ihn verraten hatte.
    »Tja, es war eine schöne Zeit zusammen, nicht wahr?« Die Stimme kam aus einer zukünftigen Vergangenheit. Er klang Lichtjahre entfernt, konnte es gar nicht erwarten, dieses Telefonat zu beenden und mit der Suche nach meinem Nachfolger zu beginnen. »Und wie geht es deiner Schwester?«
    »Willst du mit ihr sprechen?«
    Von der Anrichte in der Küche her, wo sie so getan hatte, als höre sie nicht zu, schüttelte Ruth den Kopf. »Ich weiß nicht, Joey«, sagte Jonah. »Will sie denn mit mir sprechen?«
    Ruth verfluchte mich leise, als ich ihr den Hörer reichte. Sie hielt ihn wie eine Keule. Ihre Stimme war tonlos und leise. »Jojo.« Nach einer Weile: »Lange her. Bist du jetzt ein alter Mann?« Sie hörte zu, wie tot. Dann richtete sie sich auf, zeigte Widerspruch. »Komm mir bloß nicht damit. Nur... nein.« Und nach einer weiteren Pause: »Nein, Jonah. Das solltest du tun. Das passt zu dir.«
    Noch einmal hörte sie zu, dann reichte sie den Hörer an Opapa weiter. »Hallo. Hallo?«, brüllte er auf Deutsch hinein. »Dieses ist mein Enkel?«
    Die Worte waren wie Messerstiche. Ruth litt noch mehr. Sie kam zu mir und flüsterte, leise, damit man es am europäischen Ende nicht hörte: »Bist du dir wirklich sicher? Du hattest Arbeit da drüben. Vielleicht gehörst du doch dorthin.«
    Aber sie wollte bloß meine Stimme hören. Sie konnte dieses Telefonat nicht ertragen. Wir redeten, damit wir Opapa nicht hörten, und waren doch hilflos ausgeliefert. Er und Jonah unterhielten sich für drei oder vier Minuten, über nichts, über alles – fassten ganze Dekaden zusammen in ein paar Hundert Worten. Opapa wollte von Jonah alles über Europa wissen, über die polnische Gewerkschaftsbewegung, über Gorbatschow. Weiß Gott, welche Antworten Jonah für ihn erfand. »Wann kommst du nach Hause?«, fragte Opapa. Ruth redete umso hektischer, als könne sie diese Frage damit auslöschen. Aber das ist ja gerade das Geheimnis an Lauten: Selbst wenn sie alle gleichzeitig da sind, hebt keiner den anderen auf. Sie summieren sich immer weiter, auch wenn kein Akkord so viele Noten auf einmal halten kann.
    Eine Sekunde lang Schweigen, dann blies Opapa heftig zum Sturm. »Du hast ja keine Ahnung. Du lebst hinter dem Mond. Du musst herkommen und es dir anhören. Jeder Tanz, jedes Lied in diesem Land hat jetzt Farbe bekommen.« Ruth und ich gaben unsere Pantomime auf. Sie sah mich an, aber bevor ich auch nur mit den Schultern zucken konnte, war unser Großvater schon in voller Fahrt. »Du denkst, du bist ein Verräter, weil du da draußen bist? Ein Kundschafter bist du. Ein Doppelagent ... Gut, so kannst du es meinetwegen auch nennen. Nenn mir ein Stück klassische Musik, das nicht besser klingt, wenn die Putzfrau es singt. Der kleine Winkel der Welt, den du da erforschst, wird bald überrannt werden von

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