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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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gezogen waren. Das Land war in den Jahren seither unendlich viel größer geworden. Nach wie vor waren Radiowellen das Einzige, was so große Entfernungen durchmaß. Alles, was wir aus dem Äther fischten – selbst die Country–Sender, deren Musik der Wind über die Ebenen der Great Plains wehte –hatte mindestens ein Tröpfchen schwarzes Blut in den Adern. Afrika hatte mit den Liedern Amerikas das gemacht, was einst die Planta-genbesitzer mit Afrika gemacht hatten. Nur bekannten sich diesmal die Väter zu ihren Kindern.
    Ruth und ich wechselten uns ab, einer fuhr, der andere betreute den kleinen Robert. »Mit dir ist es beinahe leicht«, sagte sie. »Die Hinfahrt war die Hölle.«
    »Ich habe geholfen, Mama«, protestierte Kwame. »Ich habe getan, was ich konnte.«
    »Natürlich hast du das, Schatz.«
    Wer am Steuer saß, durfte den Sender aussuchen, obwohl sich meistens doch Kwame durchsetzte, der um jeden Preis seinen nervtötenden Bass brauchte. Besonders mochte er die Stücke, deren Rhythmus an die Wasserfolter der Chinesen erinnerte, diejenigen, die einem die Töne wie mit dem Klistier in den Gehörgang zwängten.
    »Wie heißt das?«
    »Hip Hop«, erklärte Kwame und gab selbst diesen zwei Silben einen Rhythmus, für den ich hätte üben müssen.
    »Ich bin zu alt. Nicht mal aus der Ferne könnte ich mir das anhören.«
    Meine Schwester lachte mich nur aus. »Du bist schon zu alt auf die Welt gekommen.«
    In diesem Land hatten sich Musikrichtungen herausgebildet, die ich einfach nicht mehr begriff. Nur in medizinischen Dosen konnte ich sie überhaupt ertragen. Ab und zu in diesem dreitägigen Marathon, bei dem ich aufholte, was ich an musikalischer Bildung versäumt hatte, wurde ich rückfällig und suchte nach etwas, das ich aus früheren Zeiten kannte. Die Flut der Gegenwart – die Musik, die die Leute brauchten, die ihnen wirklich half – war so sehr gestiegen, dass nur noch ein paar kleine Inseln der Erinnerung aus dem Wasser ragten. Wenn ich überhaupt einen Klassiksender fand, war nie etwas anderes zu hören als Vivaldis Vier Jahreszeiten oder Barbers Adagio für Streichorchester. Bald würde von tausend Jahren Musikgeschichte nur noch eine Hand voll Stücke übrig sein, verarbeitet zu Anthologien für intime Stunden, originellen Geschenken oder Wundermitteln, mit denen sich der Intelligenzquotient eines Babys steigern ließ.
    »Heißt das, dass ich jetzt einer unterdrückten Minderheit angehöre?«, fragte ich Ruth.
    »Darüber können wir uns Gedanken machen, wenn sie anfangen, auf euch zu schießen.«
    Kultur war das, was das eigene Fegefeuer überstand. Das, woran man sich hielt, wenn nichts anderes mehr funktionierte. Aber es dauerte nicht lange, bis auch das nichts mehr half.                                       
    Irgendwo hinter Denver stieß ich auf einen starken Sender, etwas, das sich binnen drei Noten als ein Stück von Bach entpuppte. Kantate Nr. 78. Ich warf einen Blick auf den Rücksitz, wo mein Neffe mit den Armen fuchtelte. Sein Blick gab mir zu verstehen, dass es nicht einmal seine Verachtung verdiente. Die Musik hätte vom Mars stammen können oder auch von noch weiter fort. Diesem Jungen, und Hunderten von der gleichen Sorte, sollte ich Musik beibringen.
    Der Eröffnungschor verklang. Ich wusste genau, was jetzt kam, auch wenn ich das Stück seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Zwei Takte Stille, dann das Duett. »Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten.« Mein Bruder mit zehn Jahren, so alt wie Kwame jetzt, war tatsächlich mit beherzten Schritten diese Folge von hohen Tönen entlanggehüpft, beflügelt von der Begeisterung über seine eigene Stimme. Auch hier wurde der Sopranpart von einem Jungen gesungen, genauso gut wie mein Bruder seinerzeit, genauso trunken von den Tönen. Die tiefere Stimme, diesmal ein Kontratenor, erwachte in diesem harmonischen Wettlauf zum Leben, verjüngt von dem Versuch, mit dem Jungen Schritt zu halten, genau dem Jungen, der auch der erwachsene Sänger einmal gewesen sein musste. Es waren beides hohe, klare Stimmen, und sie sangen mit Lichtgeschwindigkeit. Ich warf Ruth einen Blick zu, um zu sehen, ob sie sich erinnerte. Aber wie hätte sie sich erinnern können? Die Stimmen schwebten, die Musik war gut, und mein Leben kehrte zu seinen Anfängen zurück. Ich raste mit diesen Noten dahin, unterwegs zu dem, woran sie sich erinnern wollten, bis das rote Blinklicht im Rückspiegel mich zur Besinnung

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