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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Schwarzen, wenn wir erst einmal das kleinste bisschen Interesse daran zeigen. Sie werden noch besser sein als im Basketball.«
    Ruth warf mir einen fragenden Blick zu. Ich konnte mich kaum ernst halten, als ich es ihr übersetzte.
    Sie tauschten improvisierte Abschiedsgrüße, und dann legte mein Großvater auf. »Interessanter Mann, euer Bruder. Er wusste nicht, dass die Sowjetunion einen neuen Parteichef hat.« Er kicherte, ließ die Schultern locker hängen. »Und ich hatte den Eindruck, dass er auch von Basketball nicht viel versteht.«
    »Was hat er zu dir gesagt?«, fragte ich Ruth.
    »Ich soll mehr reisen. Dann würde ich nicht mehr so viel an die Vergangenheit denken.«
    Die ganze Familie fand sich zu unserem Aufbruch ein. Mein Onkel Michael, meine Tanten Lucille und Lorene, die meisten von ihren Kindern und Enkelkindern – ich kannte immer noch nicht alle beim Namen. Am Abend vor unserem Aufbruch versammelten sie sich, um uns gute Reise zu wünschen. Wir sangen. Was hätten wir sonst tun sollen? Delia Banks war dabei, ihre Stimme so üppig wie ein blühender Kastanienbaum und so zart wie eine Nelke. Diesmal sang sie kein Solo, von zwölf ätherischen Takten abgesehen. Lieder wurden nacheinander, durcheinander, gleichzeitig gesungen, sie redeten miteinander und übereinander, und alles kreiste um ein einziges Thema: sie selbst. Auch die Daleys spielten das Spiel mit den verrückten Zitaten, es wurde aus einer anderen Quelle gespeist, das Wasser kälter, erfrischender. Was denkst du denn, wo eure Mutter das her hatte? Es war ein Abschied, aber er hatte nichts Trauriges. Im nächsten Jahr würden wir uns wieder hier treffen und im Jahr darauf auch, wir und all unsere Toten, so wie unsere Toten sich hier schon ohne uns Jahr für Jahr getroffen hatten. Und wenn nicht hier, dann nur eine verminderte Septime von hier entfernt.
    Spät am Abend, nachdem die letzten Verwandten gegangen waren, kam Opapa ins Zimmer seines toten Sohnes, das Zimmer, das ich seit Wochen bewohnt hatte. Er hielt ein quadratisches Stück Papier in der Hand, dick und glänzend. Er setzte sich in den alten Sessel seines Jungen, neben dem Bett, auf dem ich mich schon ausgestreckt hatte. Ich richtete mich auf, aber er gab mir Zeichen, ich solle nur liegen bleiben.
    »Die meisten Erinnerungsstücke hat deine Schwester bekommen. Schon vor Jahren habe ich ihr gegeben, was ich hatte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du noch auftauchen würdest. Aber die zwei habe ich noch für dich gefunden.« Eine Polaroid-Aufnahme von meinem Bruder und mir, wie wir Weihnachtsgeschenke auspacken, eine Aufnahme, die Pa gemacht und seinen Schwiegereltern geschenkt hatte. Und ein älteres Foto, eine Aufnahme mit einer Boxkamera, das Bild einer Frau, die nur meine Mutter sein konnte. Ich konnte den Blick nicht von ihr lassen. Mit langen Zügen sog ich es ein wie ein Erstickender die erste Luft. Es war das erste Mal, dass ich sie ansehen konnte, seit dem Brand unseres Hauses. Auf dem winzigen Schwarzweißabzug blickte eine junge Frau – weit jünger, als ich jetzt war – mit unbestimmbarer Hautfarbe, aber eindeutig afrikanischen Zügen, melancholisch lächelnd in das Objektiv, sah auf dem belichteten Negativ schon alles, was ihr widerfahren würde. Sie trug ein wadenlanges Kleid mit weit auslaufenden Trompeten-ärmeln, die große Mode ein paar Jahre vor meiner Geburt.
    »Welche Farbe hat dieses Kleid?«, hörte ich mich aus ferner Vergangenheit fragen.
    Er blickte mich forschend an. Er sah den Hunger in mir, und der Anblick brachte ihn fast um. Er wollte etwas sagen, aber dann blieb er stumm.
    »Marineblau«, antwortete ich an seiner Stelle.
    Lange Zeit saß er reglos da, dann nickte er. »Ganz recht. Marineblau.«
     
    Wir verabschiedeten uns von unserem Opapa. Er ließ nicht zu, dass wir so taten, als könnten wir ihn in diesem Leben noch einmal wiedersehen. Ruth umarmte mit unserem Großvater zugleich alle Menschen, von denen sie sich nie hatte verabschieden können. Und er trug sie ja auch alle in sich. Er kam mit nach draußen, als wir in den Wagen stiegen, und plötzlich wirkte er älter als neunzig. Er nahm meine Hand. »Ich bin froh, dass wir uns noch begegnet sind. Bis zum nächsten Leben, in Jeru-salem.«
    Mein Großvater hatte Recht: Die Musik von ganz Amerika hatte Farbe bekommen. Unsere Fahrt quer über den Kontinent war der Beweis. Es war eine Fahrt zurück zu den Tagen, an denen Jonah und ich kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten und Kanada

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