Der Klang der Zeit
etwas Zeit, Klänge zu erproben, die nicht die meinen waren, für Tonleitern und Rhythmen, die Hymnen all der Nationen, die von meinem Ursprungsort uner-reichbar waren. In der New Day School entwickelten wir eine Idee, bestechend in ihrer Einfachheit. Es gab nur eine Art Publikum. Es gab nur eine Art von Musik.
Wir hatte Worte und Töne und Satzmelodien. Zahlen und Muster und rhythmische Formen. Sprechen und Schreien. Vogelzwitschern und Vibrationen; Lieder zum Pflanzen und Lieder zum Beschützen; Gebete des Erinnerns und des Vergessens, Klänge für jedes Lebewesen, jede Erfindung unter den Sternen und für jeden Himmelskörper am Firmament. Alles redete mit allem, in einer Sprache aus Tönen in der Zeit. Wir rappten die Tempora. Wir skandierten die unregelmäßigen Verben. Wir lernten Naturwissenschaft, Geschichte, Geographie und jeden anderen organisierten Schmerzens– oder Freudenschrei, der jemals auf einem Zeugnisformular stand. Aber wir hatten kein Unterrichtsfach namens Musik. Alles war ein einziges Lied, jedes Mal, wenn ein Kind den Kopf drehte. Eine okkulte Rechenaufgabe, bei der die Seele sich nicht bewusst ist, dass sie zählt.
»Ich will gar keine Wunder«, sagte Ruth. »Ich will einfach nur, dass im Durchschnitt mehr Grundschulkinder lesen können als Familien in unserem Bezirk wohnen.«
Wir hatten nicht viel Geld für Instrumente. Alles, was fehlte, bauten wir selbst. Wir hatten Steel Drums und Glasharmonikas, Gitarren aus Zigarrenkisten und Glockenspiele. Wir schrieben unsere eigenen Arrangements, und jede neue Welle von Kindern lernte sie von Grund auf neu. Jeder Jahrgang hatte seine Komponisten, seine Chorsänger, seine Primadonnen und soliden, verlässlichen Ensemblemusiker. Meine Schü-ler brüllten und heulten für mich fast so, wie sie es auch ohne mich getan hätten. Ich gab ihnen nur Raum dafür, mehr nicht.
Einmal kritisierte mich Ruth deswegen. »Joey, lass uns zusammen in einen Plattenladen gehen. Man könnte meinen, du hättest seit dem Jahr, in dem du nach Europa gegangen bist, aufgehört –«
»Kein Platz mehr, Ruth. Meine Notenlinien sind voll.«
»Blödsinn. Du wirst die neue Musik lieben. Und deine Schüler werden viel –«
»Hör auf. Wir haben eine Abmachung.« Sie sah, dass ich zitterte, und nahm meinen Arm. Ich senkte die Stimme um mehrere Dezibel. »Das ist mein Beitrag, den ich für dich leisten kann. Ich gebe diesen Kindern etwas, was kein anderer Mensch auf der Welt ihnen jemals geben wird. Keiner außer mir.«
Sie streichelte mich, ebenso erschrocken wie ich selbst. »Du hast Recht Joey. Tut mir Leid. Du bist der Musiklehrer. Und ich bin nicht die Poli-zei.« Es war das einzige Mal, dass wir uns über den Lehrplan stritten.
Jetzt hätte ich heiraten können. Das Bild von Mama, das mein Großvater mir geschenkt hatte, stand gerahmt auf dem Regal mit den Büchern zur Musikerziehung: Die Frau, mit der ich mein Leben verbringen würde, der Geist, der mich daran gehindert hatte, Teresa zu heiraten, war heimgekehrt. Ich lebte inmitten von Frauen, die überall da gewesen waren, wo auch meine Mutter gewesen war, die vorgesungen und Hürden genommen hatten, an denen Mama gescheitert war, Frauen, die mich von Albträumen erlösen konnten, deren Existenz ich nicht einmal ahnte, Frauen mit einem Leben voller Brüche, die womöglich perfekt zu mir gepasst hätten. Aber ich hatte keine Zeit für die Frauen. Ich hatte nur Zeit für meine Kinder und ihre Lieder.
Ich arbeitete mehr für Ruth, als ich es je für Jonah getan hatte. Die Arbeit nahm mich ganz in Beschlag, und zum ersten Mal im Leben hatte ich eine Aufgabe, die ohne mich nicht erledigt worden wäre. Das hätte genügen sollen; es war alles, was mir in Europa gefehlt hatte. Aber es war nicht genug. Etwas in mir suchte nach wie vor nach dem Fluchtweg. Der Ort, von dem ich gekommen war, lag im Sterben, weil er keine Möglichkeit hatte, dorthin zu gelangen, wo ich war.
Ich war nicht der einzige Schiffbrüchige in der Flaute dieser Gegenwart. Mein Neffe Kwame war nie Schüler der New Day School geworden. Als unser Projekt in Gang kam, war er schon zu alt dafür. Ich sah ihn nur ein- oder zweimal im Monat, wenn ich sonntags bei Ruth zu Mittag aß. Die Wahrheit war, dass Ruth sich so hingebungsvoll ihrem zarten Pflänzchen im Beton widmete, dass ihr eigener Sohn schließlich Privatunterricht in der Schule für Schlüsselkinder bekam. Zwischen elf und dreizehn wuchs er unglaublich schnell und war schließlich doppelt so
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