Der Klang der Zeit
und unter all unseren Darbietungen war uns das am schwersten gefallen: glaub-würdig und gut zu sein. Jetzt spielte ich in einem anderen Konzert, einem Konzert ohne Eintrittskarten, zu dem jeder Zutritt hatte, der sich die Mühe machte hinzugehen.
Nach weniger als einem Jahr kam ein Brief von Onkel Michael. Dr. Daley war im Schlaf gestorben, kurz vor seinem einundneunzigsten Geburtstag. »Das erste Mal, dass er etwas ohne Mühen getan hat«, schrieb Michael.
Was mich betrifft, wird nichts je wieder ohne Mühen sein. Ich fühle mich hilflos wie ein Zwölfjähriger. Mit ihm geht eine Ära zu Ende. Wir haben alle die Orientierung verloren ... Lorene sagt, er hätte nur darauf gewartet, seine verlorenen Enkel kennen zu lernen ... Wir ersparen euch all die Überraschungen, auf die wir gestoßen sind, als wir seine Sachen durchgingen. Der Tod enthüllt jedes Geheimnis. Aber eines solltet ihr doch erfahren. Erinnerst du dich an den Mahagonischreibtisch in seinem Arbeitszimmer, Ruth? Wir wollten ihn aufheben, zusammen mit ein paar anderen Erinnerungsstücken aus dem alten Haus. Als wir das Ding aus der Ecke zogen, entdeckten wir hinter der Wandverkleidung eine vergilbte Mappe. Sie war voll mit Zeitungsausschnitten über dich, Joseph, Artikel über dich und deinen Bruder. Er hatte sie jahrelang heimlich aufbewahrt, da wo Mama sie nicht finden konnte. Er hatte sie so lange versteckt, bis er sie selbst ganz vergessen hatte ...
Und wenn euch das noch nicht das Herz bricht, kommt es noch schlimmer. Vor zwei Jahren, nach Mamas Tod, habe ich den Mädchen geholfen, ihre Kommode auszuräumen. Und sie hatte genauso eine versteckte Mappe mit Zeitungsausschnitten. Heimliche Souvenirs. Wir haben es dem alten Herrn nie erzählt. Da sieht man, was Blutsfehden anrichten. Ob die Weißen sich so etwas auch antun?
Der Brief nahm mir die Luft, als hätte mir jemand die Lunge aus dem Leib gerissen. Ein Mann und eine Frau, seit Jahrzehnten verbunden zu einer eigenen Nation, und das Experiment meiner Eltern hatte sie gespalten. Jetzt war niemand mehr da, den man um Verzeihung bitten konnte. Ich hatte niemanden, dem ich Abbitte leisten konnte, niemanden außer mir selbst. Ich las den Brief und war das ganze Wochenende krank. Als ich schließlich die Kraft hatte aufzustehen, wollte ich arbeiten.
Da war ich bei Ruth an der richtigen Adresse. Sie hatte sämtliche Schulen von Oakland abgegrast und ein Dutzend der engagiertesten Lehrer in der ganzen Bay Area für ihr Vorhaben gewonnen, allesamt alte Bekannte. Sie hatten nur auf sie gewartet, ebenso Opfer des Erziehungssystems wie der unbelehrbarste Schulabbrecher. Ruth und ihre Mitstreiter hatten so viel an praktischer Erfahrung, dass die Theorie bei ihnen keine Chance hatte. Unter Steinen und in den Matratzen betagter Witwer entdeckten sie verborgene Geldquellen. Sie scheuten vor nichts zurück, nicht vor Bettelbriefen an öffentliche Einrichtungen, nicht vor Wohltätigkeitsbasaren und auch nicht vor kleinen Schwindeleien. Dank einer größeren anonymen Spende, an die keinerlei Bedingungen geknüpft waren, konnten sie eine Stiftung ins Leben rufen. Wir richteten uns ein in einem verlassenen Lebensmittelladen; die Miete kostete uns kaum mehr als die Versicherungsbeiträge und die Steuern. 1986 öffnete die New Day Elementary School – vom Kindergarten bis zum 3. Schuljahr – ihre Pforten und war binnen drei Jahren offiziell anerkannt. »Die ersten vier Jahre sind entscheidend«, sagte Ruth. Guter Unterricht war eine Frage der Finanzen. Viele unserer Eltern leisteten ihren Beitrag in Form von ehrenamtlicher Arbeit.
Sie stellte mich zur Probe ein, bis ich ein Diplom hatte wie alle anderen. Ich unterrichtete tagsüber und drückte abends selbst die Schulbank. Meinen Abschluss in Musikerziehung bekam ich zur gleichen Zeit wie Ruth ihren Doktortitel in Pädagogik. Meine Schwester verblüffte mich Woche für Woche aufs Neue. Ich hatte nie gedacht, dass ich noch einmal einen Beitrag dazu leisten würde, in der wirklichen Welt etwas zu verändern. Ruth hatte sich nie mit etwas anderem abgegeben. »Es ist nur ein winziger Schritt. Eine Blume, die sich einen Weg durch den Beton bahnt. Sie sprengt den Stein nicht. Aber es ist ein Anfang.«
In den ersten vier Jahren als Lehrer an der New Day Elementary School lernte ich mehr als in den vierzig Jahren davor. Mehr darüber, was mit einer Melodie geschieht auf dem Weg zurück zu ihrem Ausgangspunkt, zum einfachen do. Anscheinend blieb mir doch noch
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