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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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brachte. Ich warf einen Blick auf den Tachometer: neunundachtzig Meilen die Stunde.
    Bis ich an den Randstreifen gefahren war und der Streifenwagen hinter uns hielt, zitterte Ruth schon am ganzen Leibe. »Nicht aussteigen«, schrie sie. »Steig ja nicht aus!« Kwame kauerte auf dem Rücksitz, drückte sich an die Tür, bereit, nach draußen zu springen und dem Bullen die Pistole aus der Hand zu reißen. Der kleine Robert brüllte wie am Spieß, als ob der Schmerz unserer Rasse tatsächlich schon im Mutterleib begänne. Meine Schwester wollte ihn trösten, aber es war eher, als ränge sie ihn nieder.
    »Das wär's«, sagte Kwame. »Wir sind erledigt.«
    Der Polizist hinter uns las unsere Nummer, spielte genüsslich mit seiner Beute. Als er schließlich ausstieg, stießen wir alle drei einen Seufzer aus. »Gott sei Dank«, sagte Ruth und konnte ihr Glück nicht fassen. »Dem Himmel sei Dank.« Der Mann war schwarz.
    Ich kurbelte das Fenster herunter und hielt ihm meinen Führerschein hin, bevor er überhaupt danach fragen konnte. »Sie wissen, warum ich Sie angehalten habe?« Ich nickte. »Ist das Ihr Wagen?«
    »Er gehört meiner Schwester.« Ich wies auf Ruth. Mit der einen Hand besänftigte sie das Baby, mit der anderen hielt sie Kwame in Schach.
    Der Beamte zeigte mit dem Finger. »Wer ist das?«
    Ich folgte der Richtung, in die er wies: Auf das Radio, aus dem noch immer die Kantate 78 ertönte. Im Eifer des Gefechts hatte ich vergessen es abzuschalten. »Bach«, sagte ich und sah den Polizisten entschuldigend an.
    »Das weiß ich, Mann. Ich meine, wer singt da?«
    Er nahm meinen Führerschein und zog sich in den Streifenwagen zurück. Zwei lebenslange Gefängnisstrafen später reichte er ihn mir zurück. »Habt ihr eine bessere Verwendung für die hundertzwanzig Dollar?«
    Kwame verstand die Frage, bevor ich so weit war. »Wir machen eine Schule auf.«
    Der Polizist nickte. »Das nächste Mal bitte nicht ganz so allegro, verstanden?«
    Nach zwanzig Meilen auf der Schnellstraße brach Ruth in lautes Gelächter aus. Die Nerven. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Ich überlegte, ob ich anhalten sollte. »Ihr verdammten Weißen.« Zwischen den hysterischen Schluchzern rang sie nach Luft. »Ihr kommt doch wirklich jedes Mal mit einem blauen Auge davon.«

DEEP   RIVER
     
    So ist der Lauf der Zeit: Sie stürmt dahin wie ein nervöser, vom Lampenfieber gepackter Nachwuchsmusiker bei seiner allerersten Talentprobe. Ein Blick ins Publikum jenseits der Rampe, und monatelanges Üben im Takt des Metronoms endet in einem rasenden Galopp. Die Zeit hat kein Gespür für Tempi. Sie ist schlimmer als Horowitz. Die Noten auf dem Papier bedeuteten nichts. Ich landete in Oakland, und plötzlich lief mein Leben doppelt so schnell wie zuvor.
    Ich zog ins Obergeschoss eines vom Zahn der Zeit angenagten Lebkuchenhauses, zehn Blocks von meiner Schwester entfernt, nicht weit von der Interstate. Bis zum Preservation Park brauchte ich zu Fuß zwanzig Minuten. Aber in klaren Nächten konnte ich mit bloßem Auge den Polarstern erkennen. Der De Fremery Park lag näher. Die Sozialprogramme, die die Panthers dort ins Leben gerufen hatten, gehörten
    längst der Vergangenheit an, aber die Kundgebungen gab es noch immer, genau wie die Verbrechen, gegen die sie protestierten.
    Ich fühlte mich an der East Bay wie eine vermummte Gestalt auf dem Maskenball im vierten Akt. Wenn ich in den ersten Wochen abends durch mein neues Wohnviertel nach Hause ging, spürte ich all die Ängste, das schlechte Gewissen, das mein Land mir eingeimpft hatte. Ich wusste genau, wie ich aussah, wie ich klang und mich bewegte. Nie war ich auffälliger gewesen, nicht einmal in Europa. Auch ich hätte, wenn ich nach einem Opfer Ausschau gehalten hätte, mich ausgesucht.
    Aber im Grunde sieht keiner den anderen. Das ist unsere Tragödie und irgendwann vielleicht auch unsere Rettung. Wir kennen nur grobe Orientierungspunkte: Bei Verwirrung links abbiegen. Geradeaus bis zur Verzweiflung. Wenn nichts mehr hilft, anhalten, umkehren, und schon ist man am Ziel. Nach sechs Monaten kannte ich die Namen sämtlicher Nachbarn. Nach acht Monaten kannte ich ihre Schwächen und Vor-lieben. Nach zehn verstanden wir uns. Es hätte länger dauern können, aber ich war ein geborenes Mitglied im Club der Außenseiter. Das einzig Überraschende an Oakland war, wie groß und eng die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen sein konnte.
    Von Anfang an waren Jonah und ich wie Weiße aufgetreten,

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