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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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groß wie zuvor. Nach dem Stimmbruch sprach er so tief und schleppend, dass ich ihn kaum noch verstand. Er machte mir fast schon Angst, einfach nur durch seine Körperhaltung und die Art zu sprechen. Oakland suchte und fand ihn und hatte die Antwort auf die Frage nach dem Tod seines Vaters. Der Rhythmus versprach Freiheit: immer wieder der gleiche Trick. Seine Kleidung verriet seinen Zorn; er kleidete sich wie ein Nachwuchsverbrecher, mit einem übergroßen Hemd aus schwarzem Segeltuch, viel zu weiten Jeans und einer Baseballkappe der Dodgers, deren Schirm er nach hinten über den breiten Nacken gezogen hatte; später zog er sich dann einen Strumpf über dem Kopf. Er spreizte die Finger wie Chopsticks, ein typischer Rapper. Das Einzige, was ihm noch fehlte, war die abgesägte Schrotflinte.
    Ich wollte ihm Klavierunterricht geben. Es war ein einziges Desaster. Ich war sein Onkel, was immer das bedeuten mochte. Der Geist seines Vaters war immerhin so stark, dass er mich nicht auf der Stelle für verrückt erklärte. Aber mit meinen Akkorden wusste er nicht das Geringste anzufangen. Für ihn war ich so vernagelt, dass ihm die Schimpfworte dafür fehlten. Mit seinen riesigen Händen konnte er mühelos ein Zehntel der Klaviatur greifen, es war großartig. Aber zehn Minuten Üben pro Woche war zu viel verlangt. Als bäte man jemanden, nur um des Seelenheils willen einen Stein mit sich herumzuschleppen.
    Mit jeder Unterrichtsstunde mussten wir der Wahrheit ein bisschen mehr ins Auge sehen. »Spielt das Ding auch ›Dopeman‹? Spielt das Ding ›Fuck tha Police‹?«
    Er konnte mich nicht verletzen. Das war längst geschehen, vor viel zu langer Zeit. »Es spielt, was du willst. Du musst nur gut genug werden, dass du ihm sagen kannst wie.«
    Was beherrscht uns? Was können wir beherrschen? Kwame versuchte, seinen Rap zu spielen, der sich nicht in Notenlinien zwingen ließ. Es war, als wolle er mit einem Spaten eine Skulptur schaffen. Das Ergebnis machte ihn einfach nur wütend. Er brachte eine Platte mit zum Unterricht und wollte, dass wir damit arbeiteten. Eigentlich wollte er mich provozieren. »Das wird dir gefallen. Wreckin' Cru.« Das Abbruch-kommando. »Uralter Scheiß. Die benutzen noch ein Keyboard.«
    Ich schaute auf das Datum. Achtzehn Monate alt. Er spielte mir einen Titel vor, eine Nummer mit einem wilden, willkürlichen Synthesizer-Riff. Ich spielte es für ihn nach, Note für Note. Ich musste alles geben, was in mir steckte.
    »Scheiße«, murmelte Kwame, matt und tonlos.
    Mehr aus Neugier, als um ihn zu beeindrucken, spielte ich die Melodie von neuem, diesmal in einem hämmernden Rhythmus und unterlegt mit einem kräftigen, reich verzierten barocken Bass. Dann versuchte ich es mit einer Fuge. Die Bearbeitung der Bearbeitung. Das ganze System lebt vom Diebstahl. Nenn mir eine einzige Melodie, die noch nicht gestohlen worden ist.
    Als ich innehielt, starrte mein Neffe mich einfach nur kopfschüttelnd an. »Du bist so was von abgedreht, weißt du das.«
    »Ist mir klar.«
    Er hatte seine Masche – dieser rappende Sohn einer promovierten Erziehungswissenschaftlerin –, aber seine Masche war echt. Er folgte der Melodie, die er in seinem Innersten hörte. Kwame war erfüllt von einer leidenschaftlichen, zornigen Glut, die meinem eigenen Spiel immer gefehlt hatte. Wir gehen durchs Leben und spielen uns selbst. Schwarz, nicht schwarz. Noch zehn Jahre weiter, und sie würden ihm auch diese Musik nehmen. Jeder wohlhabende weiße Jugendliche von Vancouver bis Neapel würde sie dann spielen.
    Seine beiden Onkel hatten diesen Diebstahl einst besungen, eine fast vergessene, uralte Melodie mit noch älteren Worten. Wir waren in einer ehemaligen Reederei in Den Haag aufgetreten, die mit dem transatlantischen Dreieckshandel ein Vermögen verdient hatte. Was wir lieben, ist, was bleibt. Kwame rappte für mich, Lieder über das Töten von Polizisten und Koreanern, über Frauen, die in ihre Schranken verwiesen werden müssen. Er kicherte, wenn ich mit ihm über die Texte sprechen sollte. Ich war mir nicht sicher, ob er sie überhaupt verstand. Ich selbst konnte jedenfalls nichts damit anfangen. Aber sein Körper verstand jede Zuckung dieser geschmeidigen, urtümlichen Rhythmen: der einzige Ort, den er zum Leben hatte.
    Er kam mit roten Augen zum Unterricht, die Glieder schwer, die Muskeln in seinem Gesicht schlaff und amüsiert über die Welt der Weißen. In seinen Kleidern hing der süßlich-beißende Geruch von brennendem

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