Der Klang der Zeit
Lachen verbrannte mir die Kehle. »Wenn ihr kommt, zeige ich dir die Gegend. Wie geht es denn den anderen? Was macht Celeste?« Dies-mal war es seine lange Pause, die mir alles verriet. Zu spät fragte ich: »Wie lang ist es her?«
»Lass mal überlegen. Im letzten Jahr. Aber kein Grund zur Aufregung. Alles freundschaftlich. Wie sagt man? Im gegenseitigen Einvernehmen.«
»Was ist geschehen?«
»Du weißt doch, wie das ist mit diesen Mischehen. Die halten nie.«
»War ... jemand anderes im Spiel?«
»Kommt darauf an, was du unter ›im Spiel‹ verstehst.« Er erzählte mir alles. Kimberly Monera, das blonde, bleiche, blutlose Gespenst, hatte versucht, sich wieder mit ihm anzufreunden. Mit einem braunen Kind im Gepäck, die tunesische Ehe gescheitert, von ihrem berühmten Vater verstoßen, war sie in Nordeuropa aufgetaucht. Sie hatte Jonahs Aufent-haltsort ausfindig gemacht und ihm erklärt, dass er immer der Mann ihrer Träume geblieben sei, dass ihr in ihrem ganzen von Musik zer-störten Leben kein anderer je so nahe gekommen sei. »Ich habe nichts getan, Joey. Habe sie nicht einmal angerührt, außer dass ich sie wieder in Richtung Italien gedreht und ihr zum Abschied auf die Schulter geklopft habe.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Denkst du, ich?« Er klang wieder, wie er mit vierzehn geklungen hatte. »Und sobald sie fort war ... nichts mehr.«
»Was meinst du damit, ›nichts mehr‹ ?«
»Ich meine damit, dass ich nichts mehr spürte. Null. Wie betäubt. Ich wollte Celeste nicht mal mehr ansehen. Nicht mehr in einem Zimmer mit ihr sein. Kann es ihr nicht verdenken, dass sie die Nase voll hatte. Schlafen, Essen, Trinken, Spielen, Singen – alles, was mir einmal Freude gemacht hatte. Einfach weg.«
»Wie lange hat das gedauert?«
»Wie lange? Was haben wir denn heute für ein Datum?«
Ich geriet in Panik, als sei immer noch ich derjenige, der dafür sorgen musste, dass die Show weiterging. »Aber du machst doch noch Aufnahmen. Du singst. Ihr habt Pläne für eure erste Amerikatournee.«
»Es ist merkwürdig. Hör dir die Aufnahmen an. Hör genau hin. Irgendwie hat es Wunder für meine Stimme gewirkt.«
Ich spürte, wie er mich wieder in seinen Bann zog. Ich musste mich wehren. »Schick mir eine von den Platten. Die Adresse hast du ja. Schick mir eine, dann höre ich sie mir an.«
Er erkundigte sich nach Ruth, dann nach seinen Neffen. Ich gab ihm eine Kurzfassung. Als ich auflegte, hatte die Dumpfheit, von der er sprach, längst auch von mir Besitz ergriffen. Unsere Radarstrahlen konnten die Welt des anderen nicht mehr erfassen. Ohne seinen Anruf hätte er in San Francisco auftreten können, und ich hätte es verpasst, hätte nicht einmal beiläufig davon erfahren.
Drei Wochen später kam ein Päckchen mit CDs. Beigelegt war eine kurze Notiz. »Ich lasse euch Karten schicken. Für euch vier oder für die, an die du sie verscherbeln kannst. Bis Juni.«
Das Bild auf der Gesualdo-CD schockierte mich. Die neu formierten Voces Antiquae standen in der Halbtotale im Portal einer gotischen Kirche. Sie waren allesamt weiß. Aus dieser Entfernung war kein Unterschied zu erkennen. Immerhin holte ich die Schachtel aus der Zellophan-hülle und legte die Scheibe in den Player. Aber ich konnte mich nicht dazu bringen, es mir anzuhören.
»Komm mit«, bettelte ich bei Ruth. »Nicht um seinetwillen. Tu es für mich. Wann habe ich dich zum letzten Mal um einen Gefallen gebeten?«
»Es vergeht keine Woche, in der du mich nicht um etwas bittest, Joseph. Du willst mehr Sachen haben als die Naturwissenschaftler.«
»Ich meine, für mich persönlich.«
Sie nahm die Plattenhülle und betrachtete das Umschlagbild des Ge-sualdo. Ihre Hände zitterten, als könne er sie selbst damit noch zurückstoßen. Sie musterte das Gruppenfoto. Sie verzog ein wenig den Mund. »Welcher von denen ist Jonah? Nur ein Witz.« Sie nahm das Booklet heraus und las den ersten Absatz. Die Formulierungen ärgerten sie, und sie reichte mir die Platte zurück.
»Was meinst du? Sollen wir ein paar Takte hören?« ›
Ihre Stimme klang rau. »Frag die Jungen.«
Die echte CD in ihrer echten Plastikbox faszinierte Kwame. Das war lange vor der Zeit, als es Schwarzgebranntes an jeder Straßenecke gab. »Ich habe einen Onkel, der in einer Band singt? Mann, klasse. Leg auf, Bruder. Lass
Weitere Kostenlose Bücher