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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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zuvor besucht hatten, allerdings mit einem etwas anderen Lehrplan. Diese Schule war rein berufspraktisch ausgerichtet. Ruth konnte es sich nicht leisten, Kwame dorthin zu schicken, selbst wenn ich ihr etwas dazugab. Aber wenn sie ihn nicht dorthin geschickt hätte, wäre sie bankrott gewesen.
    »Jede Nacht«, erzählte sie, »immer derselbe Traum. Ein Uniformierter hält ihm die Pistole an den Kopf und drückt ihn auf den Asphalt.«
    Ich hatte den Eindruck, dass die neue Schule ihm gut tat. Wenn ich Kwame jetzt sah, wirkte er unbeschwerter, weniger verletzlich, nicht mehr so fahrig wie zuvor. Er fuchtelte immer noch mit seinen abgewinkelten Unterarmen durch die Luft und vergrub die Finger in den schützenden Achselhöhlen. Aber er war schlagfertiger geworden, und in seinen Schmähreden machte er häufiger auch sich selbst zur Zielscheibe des Spottes. Zusammen mit zwei Freunden gründete er eine Band namens N Dig Nation. Kwame rappte und stand am Plattenspieler. Seine Rhythmen waren so komplex und so unregelmäßig, dass ich sie nicht aufschreiben konnte, geschweige denn mit den Händen klatschen. Die Band spielte vor einem stampfenden High School-Publikum, und von Mal zu Mal wurde die Menge größer und ekstatischer.
    Jonah und Celeste schrieb ich regelmäßig zu Weihnachten und zum Geburtstag eine Karte. In ein paar ausführlichen Briefen berichtete ich über unser Projekt: Über Ruths unermüdliche Energie, Kwames Schwie-rigkeiten, meine eigenen Lehrmethoden, die Riege der Wunderkinder in der derzeitigen ersten Klasse, das Sortiment an Schlaginstrumenten, das wir für den Unterricht angeschafft hatten. Von dem quälenden Gefühl der inneren Leere schrieb ich nicht. Ich schickte alles in die Brandstraat. Ein Jahr lang erhielt ich keine Antwort. Ich war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch in Europa war.
    Im März 1989 rief er an. Es war kurz nach Mitternacht. Als ich den Hörer abnahm, erklang das Hornmotiv aus dem dritten Satz von Beethovens Fünfter. Nach den ersten vier Noten sollte ich eigentlich eine Terz tiefer einsetzen. Ich tat es nicht. Ich hörte einfach nur zu; nach zwei Takten hielt er inne und sagte in vorwurfsvollem Ton. »Peinlich, pein-lich! Beim nächsten Mal müssen wir dir Zeichen geben, damit du den Einsatz nicht verpasst.«
    »Oder es mit einem anderen Stück probieren«, murmelte ich im Halbschlaf. »Was gibt's, Bruder?«
    »Sei doch nicht so ein Miesepeter, Joey. Gut, ich habe ein Weilchen nicht geschrieben. Aber jetzt rufe ich an, okay? Das gibt's.«
    »Wer ist gestorben?«
    »Alle, die ich kenne oder die mir lieb waren. Wir kommen in die Staaten. Die Gruppe.«
    »Mach keine Witze! Du? Hierher?«
    »Ich rufe extra an, damit du es mir nicht hinterher vorhältst.«
    »Voces Antiquae machen ihre erste Nordamerikatournee.«
    »Das hätten wir schon vor Jahren tun können. Die Zeit wäre reif gewesen. Hat dir der Gesualdo gefallen?« Ich zögerte so lange, dass keine weiteren Erklärungen nötig waren. »Du hast ihn gar nicht gekauft. Du hast ihn dir nicht einmal in einem Plattenladen angesehen. Und was ist mit den Sachen davor? Dem Orlando di Lasso? Den Hoquetus-Gesän-gen?«
    Ich holte tief Atem. »Jonah. Lassus? Hoquetus? So was gibt es hier nicht. Nicht in meinem Viertel.«
    »Wieso? Du wohnst doch an der Bay, oder? Gibt es in Berkeley keine Plattenläden?«
    »Ich habe zu tun. Das Unterrichten ist mehr als ein Vollzeitjob. Ich könnte dir nicht mal sagen, wann ich zuletzt anderswo war als in der Schule, zum Einkaufen oder in der Wäscherei. Ehrlich gesagt kann ich dir nicht einmal sagen, wann ich zuletzt in der Wäscherei war. Berkeley ist für mich so fern wie Sansibar.«
    »Ja hat man –? Du bist doch Musiklehrer, oder?«
    »Du würdest staunen, was das alles heißt. Aber was ist das für eine Tournee? Ich kann gar nicht glauben, dass du dich noch mal als Zielscheibe für deine Landsleute hergibst.«
    »Zwölf Städte, acht Wochen.« Er war gekränkt, aber er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. »Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass es noch zwölf Städte in den Vereinigten Staaten gibt, die Oldie-Shows veranstalten, hm?«
    »Aber nur wenn du Dallas und Fort Worth als zwei Städte zählst.«
    »Anfang Juni sind wir in eurem Kaff.«
    »Meinem ... Unmöglich.«
    »Was heißt unmöglich? Ich werde doch wohl noch wissen, wo ich auftrete.«
    »Ich sage, dass jemand wie du unmöglich in Oakland singen kann.«
    »Oakland, San Francisco, das ist doch ein und dasselbe.«
    Mein

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