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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Scharen, dass er gegen Netties Wunsch noch am Sonntag Hausbesuche machte. Er hatte Glück und schuldete genau im richtigen Augenblick sein Haus um. Selbst mit fünf Kindern, selbst mit den vielen bedürftigen Patienten, denen er nie eine Rechnung stellte, wuchs sein Bankkonto ständig. Seine Ausbildungs-kosten, die Kredite, die er für die Gründung der Praxis aufgenommen hatte, waren abbezahlt. Er zeichnete Staatsanleihen. Seine Frau führte die Bücher und den Haushalt mit der alten Sparsamkeit der Alexanders. Als einzigen Luxus leistete William sich einen Chrysler-Sechszylinder, frisch vom Fließband.
    Und trotzdem raste das Land in einem solchen Tempo, dass er es nie einholen konnte. Der weiße Mann hatte manchen versteckten Zugang, wo nicht einmal ein Türsteher gebraucht wurde, um die Neger draußen zu halten. Dr. Daley sah sich den Finanzrummel genauer an – die Spiele, die die Reichen mit ihrem Vermögen veranstalteten, nicht das beharr-liche Ansparen von sauer verdientem Geld, das bisher seine Welt gewesen war. Die Antwort lag offen zutage, jeder, der sich die Mühe machte, konnte sie sehen: Aktien. Das Land schluckte Wertpapiere, als wären sie Medizin. Jeder ungehobelte Sohn eines irischen Immigranten kannte das Geheimnis: Amerika musste man kaufen. Und schließlich machte Dr. Daley es genauso. Er tat es gegen die empörten Proteste Netties und später ohne ihr Wissen. Aktiengeschäfte waren unendlich viel einfacher als das Handwerk des Arztes. Eigentlich war überhaupt nichts dabei. Man kaufte. Der Preis stieg. Man verkaufte. Mit dem Gewinn kaufte man etwas Neues, Größeres. Der Zug blieb immer in Fahrt, man konnte auf– und abspringen, wie man wollte.
    Der tägliche Kampf ums Auskommen wich nach und nach einer Sorge ganz anderer Art. 1928 spielte er mit dem Gedanken an den neu auf den Markt gekommenen De Soto, erwog sogar den Kaufeines Ferienhäus-chens auf dem Land.
    »Ein Ferienhaus?« Nettie Ellen lachte. »Auf dem Land? Wo die Farbigen zu Zehntausenden vom Land in die Stadt fliehen, und wir sind schon hier?«
    Seine Frau tadelte ihn für seinen unredlich erworbenen Wohlstand, der immer weiter wuchs. Eines Abends im folgenden Frühjahr, auf einem Spaziergang durchs Viertel, überkam ihn wie aus dem Nichts die Erkenntnis, dass das Spekulieren mit Aktien – das er inzwischen im großen Stil betrieb – unrecht war. Nicht in dem Sinne, den seine Frau anführte, die ihm vorhielt, dass Glücksspiel gotteslästerlich sei. Schließlich hatte ihr Gott unter allen Spielen das älteste, riskanteste gewagt. Nein, das Geldverdienen durch Spekulation, das begriff William jetzt, war unrecht aus zwei unwiderlegbaren Gründen. Zunächst einmal musste jeder Gewinn in diesem Spiel der Verlust eines anderen sein, und Dr. Daley wollte keinem anderen Menschen etwas wegnehmen, nicht einmal einem Weißen. Selbst wenn er nichts weiter stahl als die gute Gelegenheit, konnte kein Glück darauf liegen. Denn einem Menschen seine Chancen zu nehmen war die größte Sünde von allen.
    Zum Zweiten aber hatte keiner in Gottes großem Würfelspiel das Recht, sich einen Vorteil zu verschaffen außer durch seiner Hände Arbeit. Nur wer im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiente, hatte es redlich verdient. Jede andere Art von Gewinn war nichts als Ausbeutung und Sklaventreiberei in anderer Form. An jenem Abend, als er durch die Straßen des Viertels spazierte und seinen Nachbarn zuwinkte, die im Schaukelstuhl auf der Veranda saßen, schwor William nicht nur den Börsen ab, sondern auch den Banken, Sparkassen, Kreditanstalten, allen, die damit lockten, dass man Gewinn ohne Gegenleistung bekam.
    Noch in derselben Woche machte er seinen Aktienbesitz zu Bargeld, kaufte einen feuersicheren Geldschrank und bewahrte von da an seinen Wohlstand in Form von Banknoten darin auf. Im Herbst des Jahres brach das ganze Kartenhaus der Spekulation zusammen, und er fand sein eigenes Haus als Einziges, das stehen geblieben war, in einem Trümmer-feld.
    Die schwersten Schläge hob die Krise sich für die Schwarzen auf. Binnen zwei Jahren war die Hälfte der farbigen Arbeiterschaft von Philadelphia ohne Einkommen. Als das Arbeitsbeschaffungsprogramm der WPA kam, erhielten Farbige, wenn sie überhaupt eine Stelle bekamen, nur einen Bruchteil der weißen Löhne. Mit der Arbeitslosigkeit zeigte das weiße Amerika deutlicher denn je sein Gesicht. Die Zahl der Lynchmorde verdreifachte sich. Sie legten Herndon in Ketten, die Scottsboro Boys

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