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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dem kleinen Vortrag ihres Vaters. Jahre. Sie hatte ihre Vorstellung von dieser Stimme schon fertig, bevor sie sie zum ersten Mal hörte. Und als sie dann endlich im Radio zu hören war, da klang die echte Miss Anderson nicht nur wie ihre Vorstellung, es war ihre Vorstellung.
    »Du willst singen?«, fragte ihr Vater nach der Übertragung. »Da hast du deine Lehrerin. Die Frau musst du studieren.«
    Und das tat Delia. Sie studierte alles, verschlang unersättlich jeden Krümel Musik, den sie bekommen konnte. Sie lernte alles, was der erste lokale Gesanglehrer zu lehren hatte, und forderte einen neuen. Sie wurde Mitglied in der Philadelphia People's Choral Society, dem besten Negerchor der Stadt. Sie ging in die Union Baptist Church, der musikalische Magnet des schwarzen Philadelphia, sang dort jeden Sonntag und atmete die Luft, die Miss Anderson geatmet hatte, hatte Teil an dem, was ihr Flügel verliehen hatte.
    Es war ein schwerer Schlag für ihre Mutter. »Du gehst jetzt zu den Baptisten? Was hast du denn auszusetzen an deiner eigenen Kirche? Wir haben immer zur afrikanisch-methodistischen Episkopalkirche gehört.«
    »Es ist derselbe Gott, Mama.« Für Menschenohren jedenfalls nahe genug dran.
    Zu spät begriff William Daley, was für ein Feuer er in seiner Tochter entfacht hatte. Vergebens versuchte er zu löschen. »Du hast die Pflicht, etwas aus dir zu machen, Kind. Du hast Fähigkeiten, die du noch überhaupt nicht entdeckt hast. Du musst etwas Anständiges lernen.«
    »Singen ist doch anständig.«
    »Sicher, Singen ist eine gute Sache. Aber verdammt nochmal, das ist doch etwas, was man tut, wenn man seine richtige Arbeit getan hat.«
    »Das ist richtige Arbeit, Daddy. Meine Arbeit.«
    »Es ist nicht genug. Davon kann man nicht leben.« Der lange beharrliche Aufstieg der Daleys drohte rings um ihn zusammenzustürzen. »Sei doch vernünftig. Mit Singen kann man genauso wenig seinen Lebensunterhalt verdienen wie mit Dominospielen.«
    »Ich kann meinen Unterhalt mit allem verdienen, Daddy.« Sie fuhr ihm durch das Wenige, was ihm an Haaren blieb. Er war ein schnaubender Stier, und trotzdem streichelte sie ihn. »Mein Papa hat mir beigebracht, dass mir alles, was ich anfange, gelingen wird.«
    Der Kampf wurde Ernst. Er erklärte ihr, dass er ihr kein Geld für den Gesangunterricht geben werde. Also nahm sie in ihrem letzten High School-Jahr eine Stelle als Pflegerin im Krankenhaus an. »Ein Dienstmädchen«, sagte William. »Ich hatte gehofft, dass kein Kind von mir je wieder solche Arbeit tun muss.«
    Er versuchte es mit allen rhetorischen Mitteln. Aber er brachte es nicht über sich, ihr den Weg, den sie eingeschlagen hatte, zu verbieten. Kein Daley sollte jemals wieder einen Herrn über sich haben, auch nicht den eigenen Vater. Ob sie aus ihrem Leben etwas machte oder ob sie es wegwarf, musste seine Tochter selbst entscheiden. Ein Teil von ihm – ein winziges, lästiges Sandkorn – war beeindruckt, dass Fleisch von seinem Fleische mit solch fliegenden Fahnen ins Unglück rannte, stur wie ein verzogenes Kind aus reichem, weißem Hause.
    Sie bewarb sich um Aufnahme in das angesehene Konservatorium der Stadt. Die Schule lud sie zum Vorsingen ein. Delias Lehrer und Chorleiter taten alles, um sie gut vorzubereiten. Sie feilte an den Kirchenliedern, die ihre beherrschte, tragende Stimme besonders gut zur Geltung kommen ließen. Als spektakuläre Ergänzung lernte sie eine Arie, »Sempre libera« aus La Traviata. Sie lernte sie nach Gehör von einer alten Grammophonplatte, und wo der Text nicht zu verstehen war, riet sie, wie es heißen musste.
    Delia sang lieber a cappella statt dass sie riskierte, dass ein eifriger, aber unzuverlässiger Begleiter ihr alles verdarb. Die Prüfer würden es als Zeichen von Selbstvertrauen aufnehmen, als kalkuliertes Risiko. Aus-gebildete Sänger würden zweifellos den Kopf schütteln über ihre tech-nischen Schwächen. Aber Delia konnte an purem Ton wettmachen, was ihr an Schliff fehlte. Die lang gehaltenen hohen Noten waren ihr Ass im Ärmel. Sie entlockten ihr das Äußerste, und noch nie war ein Publikum, dem sie sie vorgesungen hatte, unbeeindruckt geblieben, ausgenommen ihre kleinen Brüder, diese unwissenden Wichte. Sie war zu jeder Prüfung bereit, selbst zum Singen vom Blatt, obwohl sie wusste, dass das ihre schwächste Seite war.
    Sie erwog und verwarf ein halbes Dutzend Kleider – zu förmlich, zu unauffällig, zu aufreizend, zu sackig. Sie entschied sich für ein

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