Der Klang der Zeit
eine Frage von ein paar Jahren.
An jedem siebten Tag packte Delias Mutter ihre fünf Kinder und schleppte sie wie einen Sack Flöhe zur Kirche der Betheigemeinde, dem Mittelpunkt ihrer musikalischen Welt. Einmal in der Woche wurde ekstatisch die Liebe Gottes und die Kraft des Glaubens beschworen, und dieser Lobgesang weckte in Delia die Freude am Gesang. Singen, das war etwas, was einem Menschen Lebenssinn geben konnte. Wer sang, der fing etwas an mit seinem Leben, der hatte mehr Leben als jeder, der nicht sang.
Delia kannte keine Hemmungen. Sie warf den Kopf in den Nacken und traf jede Note am Himmel wie ein Scharfschütze die Tontauben. Sie sang mit einer solchen Inbrunst, dass die Gemeinde die Köpfe nach dem Teenager reckte, obwohl sie doch eigentlich himmelwärts blicken sollten.
Der Chorleiter fragte, ob sie ihr erstes Solo singen wolle. Delia zögerte. »Mama, was meinst du? Es gehört sich nicht, oder? Wenn man sich so zur Schau stellt?«
Nettie Ellen schüttelte den Kopf und lächelte. »Wenn die Leute kommen, um dich zu hören«, sagte sie, »dann hast du keine Wahl. Du musst die Fackel emporhalten, die Gott dir in die Hand gibt. Das Licht hast du ja nicht aus eigener Kraft. Da darfst du es nicht unter den Scheffel stellen.«
Das war genau die Antwort, die das Mädchen hören wollte. Als Probe sang sie vor der versammelten Schülerschaft der Sonntagsschulen. Sie studierte einen der New Songs of Paradise ein, ein Werk des berühmten Komponisten Mr. Charles Tindley von der Methodistischen Episkopalkirche gleich nebenan: » We'll Understand It Better By And By«. Sie legte alle Zurückhaltung ab, zog sämtliche Register. Hie und da hoben Hände sich in die Höhe; halb hielten sie sich noch zurück, halb gaben sie schon nach, überwältigt von dem Erlebnis. Nach diesem großen Triumph hielt Delia Ausschau nach etwas Ernsterem. Der zweite Chorleiter, Mr. Sampson, stieß auf ein Stück namens »Ave Maria« von einem Mann namens Schubert, einem Weißen, der schon lange tot war.
Delia spürte, wie ihr beim Singen die Herzen der ergriffenen Gemeinde zuflogen. Mit ihrer Stimme gab sie diesen Seelen ein Zuhause, sie hielt sie so reglos in der Schwebe wie die Noten selbst, hoch oben am sicheren Ort, fast schon der Gnade nah. Die Zuhörer atmeten mit ihr, ihre Herzen schlugen in ihrem Takt. Ihr Atem reichte selbst für die längste Phrase. Die Zuhörer waren in ihr und sie in ihnen, bis das Stück vorüber war.
Ans Ende gekommen, atmeten alle gemeinsam aus, und es klang wie ein einziger großer Seufzer, ein einziges Bedauern, dass sie diese Zuflucht wieder verlassen mussten. Die Freude, die Delia in sich spürte, als die letzte Note verklang, war größer als jedes Vergnügen, das sie bis dahin gekannt hatte. Ihr Herz pochte so laut, dass aller irdische Applaus nur ein Echo davon schien.
Nach dem Gottesdienst stand sie neben dem Pastor an der Kirchentür, noch immer erschüttert, und die Musik klang noch in ihr fort. Leute, die sie nur vom Sehen kannte, packten sie, umarmten sie, schüttelten ihr die Hände; sie hatte sie allesamt mitten ins Herz getroffen. »Drei verschie-dene Leute haben mir gesagt, ich werde unsere nächste Marian«, erzählte Delia ihrer Mutter auf dem Rückweg.
»Jetzt hör mir mal zu, Fräulein. Hochmut kommt ... Merk dir das. Hochmut kommt vor dem Fall, und zwar so schnell, dass du's erst merkst, wenn du schon auf der Nase liegst. Und glaub mir, du kannst tausendmal öfter fallen als du wieder auf die Beine kommst.«
Delia versuchte gar nicht, etwas darauf zu antworten. Es war nicht leicht, ihre Mutter zu ärgern, aber wenn es einmal geschehen war, dann konnte man sich für den Rest des Tages weitere Verhandlungen sparen. »Du bist nicht unsere nächste Irgendwas«, brummte Nettie Ellen, bekämpfte den bösen Blick, als sie in die Allee einbogen. »Du bist unsere erste Delia Daley.«
Delia fragte ihren Vater, was es mit dieser Marian auf sich hatte.
»Die Frau ist die Krone unserer Kultur. Das strahlendste Licht, das wir seit langem entzündet haben. Die Weißen sagen, wir haben keinen Sinn oder kein Gefühl für des Beste an ihrer Musik. Diese Frau zeigt ihnen, dass sie Dummköpfe sind, wenn sie das sagen. Diesseits der Hölle haben die Weißen keinen Sänger, der es mit Marian aufnehmen kann, und schon gar nicht diesseits des Mississippi. Hörst du mir noch zu, Tochter? Ich dachte, du willst das wissen.«
Die Tochter wollte mehr als wissen. Und sie schwebte schon meilenweit über
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