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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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verschwanden nach einem fingierten Prozess hinter Gittern. Har-lem brannte, Philly käme als Nächstes an die Reihe. Catherine Street stand auf der Kippe, und von da würde es weitergehen bis nach South- wark.
    Immerhin blieb die Medizin ein krisensicheres Geschäft, so arm die Patienten auch waren. Sie bezahlten mit Gemüse und Eingemachtem, mit Besorgungen und kleinen Arbeiten. Je weiter die Deflation des Tauschhandels fortschritt, jeder Monat verzweifelter als der vorherige, desto länger reichte das Geld im Safe. William und seine fassungslose Nettie sahen sich um und stellten fest, dass sie auf einer geschützten Klippe lebten, von der sie hinunterblickten auf die Zerstörung ihrer Welt.
    Die Kinder würden aufs College gehen – so wie es seit zwei Generationen ein Privileg der Daleys war und so wie Nettie Alexander es für sich erträumt hatte, ohne Hoffnung, dass es jemals wahr werden würde. Ihre Kinder wurden groß mit den frommen Sprüchen der Unterdrückten: Wie viel wir schon erreicht haben, obwohl sie uns lebendig begraben. Wie viel wir noch erreichen könnten, mit nur ein klein wenig mehr Raum zum Leben.
    Mit solch banger Hoffnung wuchs Delia heran. Williams erstes Kind, das am Leben blieb, war sein ganzer Stolz, seine Religion. »Du bist mein Pionier, Schatz. Ein farbiges Mädchen, das alles lernt, was es überhaupt zu lernen gibt, ein farbiges Mädchen, das wie im Traum durchs College geht, das einen Beruf ergreift, das ein Beispiel abgibt für das ganze Land. Was ist denn falsch an dieser Vorstellung?«
    »Gar nichts, Daddy.«                                                                 
    »Gar nichts, ganz genau. Wer soll uns aufhalten?«                        
    »Niemand«, antwortete Delia jedes Mal mit einem Seufzen.
    Sie konnten ihr verbieten, in der Stadt ins Franklin-Kino zu gehen und sich Steamboat Willie oder Skeleton Dance anzusehen. Sie konnten sie in den Saal für Schwarze stecken oder sie wieder nach Hause schicken. Sie konnten ihr verbieten, zehn Straßen weiter eine Limonade im Drugstore zu kaufen. Sie konnten sie verhaften, wenn sie die unsichtbare Grenze zur weißen Welt überschritt. Aber kein Mensch konnte sie davon abhalten zu sagen, was ihr Vater gerne hören wollte.
    »Du wirst Berge versetzen«, hämmerte er ihr ein. »Oder etwa nicht?«
    »Oh doch, das werde ich.«
    »So soll es sein, mein kluges Kind. Jetzt sag mir, gibt es etwas, was dein Volk nicht kann?«
    Es gab nichts, was ihr Volk nicht konnte. Keine Woche verging ohne neuen Beweis. In manchem übertrafen die Neger ja schon die Europäer, denn der eine füllte sein Haus vom Dachboden abwärts, der andere brachte seine Möbel aus dem Keller herauf. Nicht einmal in Ansätzen hatten Neger bisher gezeigt, was sie konnten. Die Zeit würde offenbaren, welche Talente sie hatten. Sie würden die Zukunft zum Swingen bringen.
    »Was wirst du sein, wenn du groß bist, mein Kind?«
    »Alles, was ich sein will.«
    »Du sagst es, Schatz. Hat dir eigentlich mal jemand gesagt, dass du genau wie dein alter Herr aussiehst?«
    »Puh, Daddy. Noch nie.«
    Aber fünf richtige Antworten von sechs möglichen waren ja auch nicht schlecht.
    Mit dreizehn lastete die Zukunft ihrer Rasse schwer auf den Schultern des Kindes. Nur ihre Mutter konnte Delia noch trösten. »Lass dir Zeit, Liebes. Versuch nicht alles zu wissen. Kein Mensch kann alles wissen, keiner wird das je, nicht bis zum Jüngsten Tag, wo Sachen auf den Tisch kommen, die niemand gewusst hat. Auch dein Vater wird da noch staunen, beim Jüngsten Gericht.«
    Das Mädchen hatte Musik im Blut. So viel Musik, dass es den Eltern Angst machte. Zur Feier von Delias Geburt hatte Dr. Daley für das Wohnzimmer ein Klavier angeschafft, ein Zeichen des Wohlstands und ein übermütiger Dank an seine Vorfahren, denen er musikalische Gaben darbrachte, wenn der letzte Patient nach Hause gegangen war. Seine kleine schwarze Perle kletterte auf den Hocker und suchte sich auf den Tasten Melodien zusammen, noch bevor sie das ABC konnte.
    So ein Kind musste Klavierstunden bekommen. Die Eltern fanden einen Lehrer mit Collegeabschluss, der auch die Kinder der besseren Familien des Viertels unterrichtete. Der Lehrer schwärmte dem Vater vor, dass seine Tochter besser sei als jedes weiße Mädchen ihres Alters. Nicht lange, dachte William, dann würde sie auch besser sein als ihr Lehrer mit Collegeabschluss – nur

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