Der Klang der Zeit
dunkelblaues mit Trompetenärmeln und weißem Besatz an Manschetten und Kragen: klassisch, aber mit einem Hauch von Eleganz. Sie sah so gut aus, dass Nettie Ellen, auch wenn sie noch so sehr schimpfte, ein Foto von ihr darin machte. Delia erschien eine halbe Stunde zu früh an der Akademie, strahlte jeden an, der zufällig durchs Foyer schlurfte, denn man konnte ja nie wissen, welcher von ihnen Leopold Stokowski war. Als sie sich der Empfangsdame näherte, setzte sie ein selbstsicheres Lächeln auf. »Ich heiße Delia Daley. Ich habe einen Termin zum Vorsingen um viertel nach zwei.«
Sie hätte die steinerne Statue des Komturs sein können, die in Don Giovannis Wohnzimmer gepoltert kam. Die Rezeptionistin zuckte zusammen. »Zwei Uhr ... fünfzehn?« Sie schob Papiere hin und her, als suche sie etwas. »Haben Sie eine schriftliche Bestätigung?«
Delia zeigte ihr den Brief, doch ihre Arme waren zu Blei geworden. Das darf doch nicht wahr sein. Doch nicht hier. Doch nicht in diesem Tempel der Musik. Der Verstand sprintete vor, suchte nach Erklärungen, doch ihre Vernunft blieb zurück in dem schwarzen Körper, dem Stein des An-stoßes.
Sie reichte ihr den Brief, musste ihre tauben Finger zwingen, dass sie ihn hergaben. Die Empfangsdame blätterte in einem dicken Aktenordner, ganz höfliche Geschäftigkeit. »Würden Sie einen Moment Platz nehmen? Ich bin gleich wieder da.« Sie entschwand im Stakkatoschritt über den Korridor der wirbelnden Töne. Sie kehrte mit einem stämmigen, fast glatzköpfigen Mann mit Hornbrille zurück.
»Miss Daley?« Lachfältchen. »Ich bin Lawrence Grosbeck, stellvertretender Dekan und Professor für Gesang.« Er bot ihr nicht die Hand. »Bitte verzeihen Sie uns. Sie hätten längst benachrichtigt sein sollen. Sämtliche Plätze in Ihrem Fach sind vergeben. Außerdem werden wir wohl demnächst eine Lehrkraft im Sopran verlieren. Sie sind ... Sie ...«
Die Wut spürte sie zuerst im Bauch, dann breitete sie sich in Wellen aus. Das Fieber machte sich in ihren Wangen breit, ihren Augenlidern, es rauschte in ihren Ohren. Überflüssige Manieren, ein sinnloser Selbst-erhaltungstrieb, rangen den Impuls nieder, die Gewalt, die ihr angetan wurde, mit Gewalt zu vergelten. Am anderen Ende des Flurs quälte sich die Sopranistin, die vor ihr an der Reihe war, durch ihr einstudiertes Stück. Am Tisch der Empfangsdame zeigte die Sopranistin, die nach ihr kam, ihre Papiere. Noch immer strahlte Delia den Mann an, diese wuchtige, uneinnehmbare Festung. Sie lächelte, hoffte immer noch, dass sie ihn für sich gewinnen könnte, obwohl sie doch längst verschämt das Haupt gesenkt hatte.
Der Dekan wusste, dass alles rund um ihn seiner Behauptung widersprach. »Sie, Sie sollen natürlich gern ... trotzdem für uns singen. Wenn das ... Ihr Wunsch ist.«
Sie kämpfte den Drang nieder, ihn zu verfluchen, ihn und seinesgleichen für alle Zeiten. »Ja, ich singe gern. Für Sie.«
Ihr Scharfrichter führte sie den Korridor hinunter. Sie folgte ihm, benommen, mit ungelenken Schritten. Heimlich fuhr sie mit dem Finger an den holzvertäfelten Wänden entlang, von denen sie geträumt hatte. Nie wieder würde sie sie berühren. Ihr wurde weich in den Knien, sie streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten. Sie blickte von oben an sich herunter: Man konnte sehen, dass sie am ganzen Leibe bebte. Sie lag in einer Schneewehe begraben in einer Januarnacht, zitternd vor Kälte, und wollte nicht einsehen, dass sie längst erfroren war. All ihre Arbeit war vergebens gewesen. Und gerade hatte sie sich bereit erklärt, ihren Feinden noch eine weitere Gelegenheit zu verschaffen, bei der sie sich über sie lustig machen konnten.
Als sie den Raum für ihre sinnlose, schon vorab verurteilte Probe betrat, verlor sie auch die letzte Kontrolle über ihren Körper. Vier weiße Gesichter starrten sie von jenseits eines langen, mit Papieren bedeckten Tisches an, Gesichter wie Zifferblätter, jedes eine reglose Maske höflichen Erstaunens. Der Dekan sagte etwas zu ihr. Sie konnte ihn nicht hören. Ihr Gesichtskreis engte sich auf einen Fleck vor ihren Augen ein, gerade zwei Köpfe breit. Sie versuchte sich das Stück, das sie vorbereitet hatte, ins Gedächtnis zu rufen und wusste nicht mehr, was es war.
Dann kam der erste Laut. Zögernd fand ihre Stimme zu ihrer alten Kraft zurück. Ihr Gesang ließ die Prüfer innehalten, das Rascheln mit Papieren hörte
Weitere Kostenlose Bücher