Der Klang der Zeit
Juwel. Für die anderen Mädchen war es nur mehr Anlass zum Spott: ein leeres Freundschaftsband. Malalai muss geglaubt haben, ich wollte nicht, dass man sie mit meinem Namen am Arm sieht. Aber selbst so war das Band schon mehr Vertrautheit, als sie sich je an einem solchen Ort erhofft hatte. Zwischen uns änderte sich nicht viel. Zweimal konnten wir es einrichten, dass wir nebeneinander saßen, einmal in der Aula und einmal beim Festtagsessen. Ihr genügte das stillschweigende Einverständnis. Wenn wir miteinander redeten, fiel mir nie etwas anderes ein als Musik. Sie mochte die Musik genauso wie jeder anderer Schüler von Boylston, aber sie beschäftigte sie doch nicht ganz so sehr wie Filme oder Zeitschriften oder die Küche der Zukunft. Sie hatte es lange vor mir begriffen: Die klassische Musik machte einen nicht zum Amerikaner. Ganz im Gegenteil.
Dann kam der Tag, an dem es mir herausrutschte, nach einer ihrer sanften Vertraulichkeiten – etwas darüber, wie wunderbar sie das 1950er Nash-Rambler-Cabrio finde. Ich lachte über sie. »Wie bist du bloß jemals an einen Ort wie Boylston gekommen?«
Ihre Hand fuhr zum Mund, als wolle sie die Bemerkung zurückstopfen. Aber meine Frage stand im Raum, und sie konnte sie nur als Spott verstehen. Sie weinte nicht; sie floh, bevor sie so tief sank. Für den Rest des Halbjahres ging sie mir aus dem Wege, und ich tat auch meinen Teil dazu. Ende Dezember, vor Beginn der Ferien, schickte sie mir den weißen Sarkophag mit dem namenlosen Armband zurück. Dazu eine Schallplatte, Die Musik Zentralasiens, mit einer Notiz: »Die sollte für dich sein.«
Die Schule veranstaltete ihre übliche Reihe von Weihnachtskonzerten. Diese Konzerte waren für Boylston das, was für andere Schulen Abschlussprüfungen waren. Jonah und Kimberly waren mit prominenten Soli die Stars dieser Auftritte, ich ruderte als Galeerensklave. János Re-menyi verschaffte uns Termine in den Schulen der Umgegend – Cambridge, Newtown, Watertown, sogar im Süden der Stadt und in Rox-bury. Kinder in unserem Alter saßen in abgedunkelten Sporthallen, verfolgten unsere Musik so sprachlos, wie sie ein Orchester aus Äffchen bestaunt hätten, die mit einer Hand die Drehorgel kurbelten und mit der anderen den Hut lüpften. Am Ende kam stets eine Dankesrede des Schuldirektors, und viele fühlten sich bemüßigt, darin auch ein Wort über Jonah zu sagen, ihn als Beispiel für die Toleranz zwischen den Rassen herauszustellen. Aber dann kapitulierten sie doch vor unserem Nachnamen, Jonahs unerklärlicher Farbe, und alles endete in Sprachlosigkeit.
Vor unserem Auftritt in Charlestown – das erste Mal, dass wir auf der »falschen« Seite des Bostoner Hafens waren – herrschte im Chor das übliche aufgeregte Gewimmel, aber János entdeckte mich doch. Ich dachte, er wolle mich für zwei Patzer tadeln, die ich am Vorabend in Watertown gemacht hatte. Ich hatte mir schon zurechtgelegt, wie ich ihm versichern würde, dass etwas so Unverzeihliches nicht wieder vorkommen werde.
Aber Reményi war nicht meiner Sangeskunst wegen gekommen. »Wo ist dein Bruder?«
Er sah mich wütend an, als ich antwortete, das wisse ich nicht. Kimberly Monera war ebenfalls verschwunden. János stürmte genauso schnell davon, wie er hereingekommen war, sein Gesicht verbissen, als dirigiere er ein Fortissimo. Er schien fest entschlossen, die Katastrophe zu verhindern, bevor sie überhaupt begann. Aber dazu hätte man ein Tempo gebraucht, das nicht einmal János vorlegen konnte.
Über die Schmach meines Bruders kursierten mehr Gerüchte, als es Opernbearbeitungen von Dumas gab. János habe seinen Lieblingsschüler und die Tochter des großen Dirigenten hinter den Kulissen gefunden, wo sie unter ihren Kleidern aneinander herumgemacht hätten. Er habe sie aus der Requisitenkammer gezerrt, im fortgeschrittenen Stadium des Knutschens. Sie waren in einer ungenutzten Garderobe, nackt, und wollten es gerade im Stehen machen.
Davon, was es war, hatte ich ja nur verschwommene Vorstellungen, gewonnen aus dem, was bei Puccini-Matinees hinter der Bühne vorging. Als Jonah wieder erschien, gab mir sein erster Blick zu verstehen, dass ich ja nicht wagen solle zu fragen. Ich wusste nur, dass alle drei Haupt-akteure nach einem stürmischen Terzett im dritten Akt von der Bühne gestürmt waren, János wütend, Kimberly am Boden zerstört, mein Bruder beschämt.
»Dieser Bastard«, zischte Jonah, keine anderthalb Meter von unseren aufgeregt tuschelnden
Weitere Kostenlose Bücher