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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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zählte nicht.
    János tadelte meinen Bruder für den Massenet, der nicht auf dem Lehrplan stand. Die Standpauke war kühl und hochmütig; wahrscheinlich begriff Jonah nicht einmal, wie streng sie gemeint war. Wenn Re-menyi zu einem seiner Dirigate in die Stadt fuhr, nahm er Jonah nun mit. Er sorgte dafür, dass mein Bruder beschäftigt war.
    Nicht lange nach dem Vorfall im Rosengarten schlug mein eigenes Stündlein. Thad West sorgte dafür. »Diese Malalai Gilani, die macht dir schöne Augen, Strom Zwo.«
    »Da hat er Recht, mein Kleiner«, fügte der getreue Earl hinzu. »Das tut sie.«
    Ihre Worte waren eine Anschuldigung, eine Polizeiaktion, die nur Unschuldige traf. »Da kann ich nichts für. Ich habe ihr ja nicht mal Hallo gesagt.«
    »Oh doch, Strom Zwo, du hast sie verzaubert. Das ist wissenschaftliche Tatsache.«                                                                                  
    Ich wusste nichts über das Mädchen außer dem, was alle wussten. Sie war das schwärzeste Kind an der Schule, schwärzer als Jonah und ich zusammen. Ich habe nie erfahren, woher sie kam – von irgendwo aus einem der mythischen Länder zwischen Suez und dem Reich der Mitte. Die ganze Schule legte es darauf an, uns zu verkuppeln – zwei dubiose Fremdlinge, vor denen man Ruhe hatte, wenn sie sich umeinander kümmerten.
    Das Mädchen hatte eine solide Altstimme, so klar wie der Klang eines Glockenspiels im Winter. Es war geradezu unheimlich, wie sie den Takt halten konnte, sie verpasste nie ihren Einsatz, selbst in noch so schwie-rigen zeitgenössischen Werken. Es war die Art von Stimme, die einem ganzen Ensemble Rückhalt gab. Und nun hatte sie ein Auge auf mich geworfen. Morgens lag ich in meinem Bett, gelähmt von dieser Verant-wortung.
    Von dem Moment an, in dem meine Zimmergenossen mir die Augen öffneten, war offensichtlich, dass Malalai Gilani und ich uns füreinander interessierten. Bei Chorproben, bei Fahrten zu Auftritten, in der einen Unterrichtsstunde, in der ich mit ihr zusammen saß, entstand allmählich ein Pakt zwischen uns, auch wenn wir kaum mehr als einzelne, leicht zu leugnende Blicke tauschten. Aber mit einem einzigen solchen Blick unterschrieb ich einen Kontrakt mit ihr, in meinem eigenen Blut.
    An dem Tag, an dem ich mich unter dem Druck meiner Genossen in der Mensa neben sie setzte, schien sie mich anfangs gar nicht zu bemerken. Ihre ersten Worte waren: »Das musst du nicht.« Ein Mädchen von vierzehn Jahren. Damit war ich an sie gebunden, fester als mit Ketten.
    Wir unternahmen nie etwas zusammen. Sie blieb immer für sich. Einmal, auf der Fahrt zu einem Auftritt in Brooklyn, saßen wir im Schulbus nebeneinander. Aber auf der kurzen Fahrt ernteten wir so viel Spott, dass wir den Fehler nie wieder machten. Wir redeten nicht miteinander. Anscheinend vertraute sie der englischen Sprache nicht, außer in Filmen und in der Musik. Es dauerte Wochen, bevor wir uns –kurz und feucht – auch nur an den Händen fassten. Und doch waren wir ein Paar nach allen geltenden Maßstäben.
    Einmal sah sie mich entschuldigend an. »Weißt du, eigentlich bin ich gar keine Negerin.«
    »Ich auch nicht«, antwortete ich. Leichter misszuverstehen. Die Schule wollte ja nichts weiter als ihre Ruhe vor uns.
    Ich fragte, von wo sie komme. Sie wollte es mir nicht verraten. Mich
    hat sie nie gefragt – nach meinem Zuhause, meiner Familie, meinen Haaren, danach, wie ich nach Boylston gekommen war. Das brauchte sie nicht. Sie wusste es längst, besser als ich.
    Sie las die seltsamsten Dinge – Artikel über das Haus Windsor, über Tennisstars und Elite-Colleges. Sie liebte Modezeitschriften, Frauenzeitschriften, Filmzeitschriften. Sie studierte sie verstohlen, hielt den Kopf, als sei sie erstaunt über alles, was sie dort fand, wollte alles wissen über diese so unglaublich fremde Kultur. Sie konnte die Küche der Zukunft in allen Einzelheiten beschreiben. Sie schwärmte für die Szene in High Noon, in der Gary Cooper ein wenig zu zittern begann. Sie erzählte mir, wie gut ich aussähe, wenn ich mein Haar länger wachsen ließe und es dann mit Haarcreme frisierte.
    Ava Gardner faszinierte sie. »Sie hat Negerblut«, erklärte Malalai. Das war die Zeit, als Hollywood ein Musical mit farbigen Charakteren inszenieren konnte, aber nicht mit farbigen Schauspielern. Mein Vater war überzeugt, dass die Zeit still stand. Allem Anschein nach hatte

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